2. Zum Wesen einer Fotografie

Autor: Michael Albat

Es war, als sähe man zum erstenmal, was man doch täglich vor Augen hatte: die Kirche, die fernen Hügel, die Ebene. Ein Stück erstarrter Zeit, geruch- und lautlos.

Uwe Timm, Morenga

Wer hier und heute sagt, Phantasie sei wichtiger als Wissen, will damit vor allem ausdrücken, dass er nicht viel zu wissen (sprich: zu lernen) braucht. Wer nun meint, Einstein dafür als Kronzeugen bemühen zu können, hat sich sehr tief geschnitten. Einstein hat nämlich viel gewusst. Er war gebildet. Er hat nicht nur seine physikalischen Fachbücher, sondern auch philosophische Werke (Spinoza, Kant, Schopenhauer) gelesen und gründlich mit Freunden erörtert - von Romanen und Dramen ganz zu schweigen. Wer heute ausposaunt "Phantasie ist wichtiger als Wissen", der meint vor allem, er brauche sich nicht besonders informiert zu haben, um fröhlich und frei seine Meinung zu verkünden. Sie kommt ja in den Medien auch besser an als das Wissen, das jemand erworben hat. Meinungen sind viel leichter zu verstehen als die Erläuterung sachlicher Zusammenhänge. "Phantasie ist wichtiger als Wissen" - dieser Satz darf nur von jemandem in den Mund genommen werden, der zum einen genug Wissen erworben hat, um nun auf seine Phantasie vertrauen zu können, und der zum zweiten dabei gelernt hat, dass Phantasie kein Geistesblitz ist, der ohne die mühselige Arbeit des Denkens mal so beim Frühstück einschlägt.

Ernst Peter Fischer: Albert Einstein als Rinderfutter - in Die Welt, 12. März 2005

"Er hat nix, er kann nix, er tut nix, aber Pfeifeschmöken den ganzen Tag" - so soll sich die Haushälterin über Gotthold Ephraim Lessing geäussert haben. Sicher sind auch Ihnen schon Menschen begegnet, die andere dadurch charakterisieren, was diese alles NICHT sind und haben und können: Menschen mit einer Negativen Grundeinstellung. Solche Menschen verwenden gern Aussagen mit Worten wie nicht, nie, keine, weder-noch, oder aber Sätze, die sich danach umformen lassen wie zum Beispiel "Du trinkst - bist kein Abstinenzler" oder "Du rauchst - bist kein Nichtraucher". Wahre Aussagen dieser Art kann man natürlich in beliebiger Zahl aufstellen, und wenn es sie mal nach einem Streit gelüstet, können sie ja mal ein paar davon in den Raum stellen. (Ich kenne da einige Ehefrauen, denen damit nichts Neues gesagt wird.)

Und selbst wenn sich diese Leute doch einmal mit den vorhandenen Eigenschaften beschäftigen, so tendieren sie dazu, diese zu bewerten: nach gut und schlecht, wünschbar, abzuschaffen - oder doch mindestens zurückzudrängen.

Dann sprach Gott: Nun wollen wir Menschen machen, ein Abbild von uns, das uns ähnlich ist! So schuf Gott die Menschen nach Seinem Bild, als Gottes Ebenbild schuf er sie, und schuf sie als Mann und Frau.

1. Mose 1, 26-31

Irgendwie haben sie das obige Bibelzitat missverstanden: Wenn Er mich nach Seinem Ebenbild geschaffen hat, dann sind die Anderen aber überaus unvollkommen und unzulänglich geraten - reparatur- und änderungsbedürftig... - Verschweigen hilft da nix!

Ein Bumerang ist - wenn man ihn wegwirft und er kommt nicht zurück, dann war es keiner.

Beispiel einer Nicht-Definition

Die Negative Grundeinstellung schlägt natürlich auch dann durch, wenn die Analyse einer Situation abgeschlossen ist und es nunmehr darum geht, Ziele zu formulieren: Zu mehr als Negativen Zielsetzungen - Weder dieses noch jenes! Keinesfalls dies und Niemals das! - reicht dann eben auch nicht. Womit jedweder konstruktive Ansatz schon vom Denken her verbaut ist: Wer seine Zeit mit der Klage vertut, dass er nicht aus dem Stand 3m hoch springen kann, wird nie Zeit finden, etwas zustande zu bringen. Der einzige Ausweg ist dann eine Existenz als Kunst- oder Kultur-Kritiker: Dann müssen sie sich ja nicht mit den Intentionen des Künstlers oder den Tatsachen des Lebens beschäftigen, sondern können sich larmoyant darüber beklagen, dass nichts so ist wie sie sich vorstellen, dass es sein sollte.

Wer als Werkzeug nur den Hammer kennt, für den ist jedes Problem ein Nagel.

Volksweisheit

Für mich ist es geradezu zum Charakteristikum jedweder - nicht nur fotografischen - Schaffenskrise geworden, dass ich die ganze Welt grau-in-grau sehe; nur das sehe, was nicht klappt und funktioniert und läuft. Und dann kommt's, wie es kommen muss, Operative Hektik überdeckt geistige Windstille: Die Flucht in die Technik verspricht kurzfristig Abhilfe - aber gehalten wird das Versprechen niemals.

Wirkliche - nämlich grundsätzliche - Abhilfe schafft nur die Besinnung. Einerseits: Was habe ich erreicht, was will ich erreichen? Andererseits: Welche Mittel habe ich eingesetzt, habe ich sie "richtig", also ihrer Natur gemäss eingesetzt? Vor allem aber: Welche anderen Mittel stehen mir zur Verfügung?

Er sagt es klar und angenehm,
Was erstens, zweitens und drittens käm.

Wilhelm Busch, aus: Bilder zur Jobsiade (1872)

Frei heraus: Das Wesen der Fotografie ist die Manipulation. Es manipuliert der Fotograf die Wirklichkeit, der Redaktor das Bild, und beide helfen dem Betrachter, sich selbst zu manipulieren. Und das Thema dieses Abschnittes sind die Mittel des Fotografen zur Manipulation. Sie werden doch jetzt keine Angst vor dem Wort Manipulation haben, oder? Aber aber! Warum denn? Das ist doch ein Wort, ein ganz und gar unschuldiges Wort! Wie - Nebenbedeutung, Konnotation? Weiss ich nichts von!

Ich benutze Manipulation in dem Sinne wie in der Kochkunst: Wenn uns im Restaurant ein Teller Salzkartoffeln serviert wird als ein Häufchen Salz mit rohen Kartoffeln, ungeschält und mit ein wenig Erde als Beilage, so müssen wir anerkennen, dass der Koch nichts manipuliert hat. Manipuliert heisst ja zunächst ganz unschuldig "mit der Hand bearbeitet" (von lat. Manus, die Hand), was ja passiert wäre, hätte der Koch sie gewaschen und geschält. Selbst das hätte uns wohl nicht voll befriedigt: Koch kommt von Kochen, und von Salzkartoffeln werden wir erwarten, dass der Koch die Kartoffeln die rechte Zeit im kochendem Wasser belassen hat. Im übertragenen Sinne werden wir jede Erwärmung von Lebensmitteln auch ohne Wasser, meinethalben Rösti in der Bratpfanne oder Lasagne im Ofen als natürliche Aufgabe eines Kochs empfinden, und all dieses ist unzweifelhaft eine Manipulation, das Anpassen der Ware an die Bedürfnisse des Verbrauchers durch Sortieren, Mischen, Veredeln. (Die Herstellung von Salaten ist hingegen die Aufgabe der Kaltmamsell, nicht die des Kochs.)

Und wie der Koch den Markt zur Beschaffung seines Rohmaterials - nämlich der Lebensmittel - nutzt, so nutzt der Fotograf die Wirklichkeit, wie der Koch seine Messer und sonstigen Schneidwerkzeuge zum Zerlegen, Zerteilen und Zerhacken verwendet, verwendet der Fotograf seine Objektive, und die Rolle der Wärmequellen (Kochplatte, Backofen, Grill, *schluck* Mikrowelle) entspräche dann der des Lichtes.

Aber der Koch manipuliert auch den Esser - das ist sein Job. Er soll den Gaumen kitzeln - und so wird er etwa Sauerkraut und Ananas mischen und so die Geschmacksknospen des Geniessers manipulieren. Zu Salzkartoffeln und Sauerkraut passt nun nicht jedes Fleisch, aber Kassler oder Bratwurst mag hingehen. Womit nun eine Gesamtkomposition vorliegt.

Je nach Art der Präsentation - sei es im praktischen Einteller-Mehrkammer-System der Kantine, dem wagenradgrossen Teller des Gourmettempels oder den praktischen Tüten jenes bekannten amerikanischen Klopsbraters - und des Ambientes, in dem wir uns dieses Gericht einverleiben, werden wir mehr oder weniger zufrieden sein. Nur: Von "Manipulation" aber werden wir hier nicht sprechen.

Ein Foto lockt keinen Hund hinter dem Ofen hervor

Daher können [...] wenige Fotografien als Reproduktionen angesehen werden, weil die meisten fotografischen Motive drei Dimensionen aufweisen, während eine Fotografie nur zwei besitzt: die Tiefe hat sie verloren. Ferner bewegen oder verändern sich die meisten fotografischen Motive - der Zeitablauf fehlt. Viele der interessantesten fotografischen Objekte sind lebendig, aber ein Foto ist ein Gegenstand - das Leben fehlt. Die meisten Motive erwecken auch neben dem visuellen andere Sinneseindrücke - zum Beispiel bei Berührung heiss, kalt, feucht, trocken, weich, hart, sanft, rauh, usw. - Gehör, Geschmack, Geruch -, aber die Fotografie wendet sich nur an den Gesichtsinn. Kein Wunder, dass viele Fotografien "unvollkommen" erscheinen, enttäuschend, unwirksam und platt sind...

Feininger, Seite 260f, Kapitel "Wie man ein Bild gestaltet"

Von allen Möglichkeiten, die der Mensch in seiner Geschichte ersonnen hat, seine Wahrnehmung der Welt festzuhalten, sie anderen Menschen mitzuteilen und zu überliefern, von den Höhlenmalereien und Steinzeichnungen über die Illustrationen ägyptischer Tempel bis hin zur bildenden Kunst unserer Tage ist die analoge Fotografie im Allgemeinen und die analoge SW-Fotografie im Besonderen schon aus den von Feininger genannten Gründen eigentlich denkbar ungeeignet, und es fasziniert mich doch immer wieder, dass ein Bild funktioniert.
Funktioniert?!?
Nun ja - Eine Paraphrase eines Satzes von G.P. Hardy: "Ein Fotograf ist, wie ein Mathematiker oder Dichter, ein Verfertiger von Mustern."

Bild: Michael Albat

Der Fotograf gestaltet ein Muster; und beim Betrachter durchschiesst dieses Muster die Augennerven, das optische Wahrnehmungszentrum, wird auf der unbewussten Ebene assoziiert mit dem genetischen und kulturellen Bildern und dann vom Betrachter bewusst wahrgenommen - oder eigentlich: interpretiert. Wenn man es von dieser Seite aus betrachtet, dann findet die Bildgestaltung eigentlich im Kopfe des Betrachters statt, und das Foto liefert nur den Bauplan dazu. Und wenn das keine Manipulation ist, dann weiss ich auch nicht.

Andreas Bildgestaltung kann man in wesentlichen Teilen betrachten als eine Beschreibung von Mustern - wohl auch: Farben und Farbkombinationen - und ihrer Wirkung auf den Betrachter?

In diesem Abschnitt wollen wir uns über die Eigenschaften klar werden, die jedem Foto innewohnt. Es sind dies gewiss Binsenwahrheiten; aber immerhin: auch die wollen erkannt und in Rechnung gestellt sein. Wir müssen sie erst verinnerlichen, damit wir sie dann "aus dem Bauch heraus" anwenden können. Ich beziehe mich da auf ein Zitat von Harald Mante, das Andreas in seiner Bildgestaltung anführt: Das Wissen um die Gestaltungsmittel sollte total verinnerlicht sein und bei der praktischen Arbeit aus dem Unterbewusstsein, also sozusagen "aus dem Bauch heraus" Einfluss nehmen.

Auf den ersten Blick ist es vielleicht vermessen anzunehmen, dass Alfreds Urlaubsfotos, die Bilder der Tagespresse, das Nackedei des Monats, eine Bildreportage von National Geographic, eine Ausstellung der Landschaftsbilder von Ansel Adams, die Illustration in einem Versandhaus-Katalog oder einem Werbeflugblatt unseres Supermarktes oder was uns sonst noch so in gedruckter oder gepixelter Form über die Augen läuft, dass all diese Bilder etwas gemeinsam haben sollen.

Haben sie aber: Ganz primitiv ist ein Foto ein - buntes oder schwarz-weisses - Muster, und das Muster ist das Abbild eines Ausschnitts der Welt zu einem Zeitpunkt.

Diese Definition trifft auf eine Zeichnung, ein Aquarell usw. nicht zu: "Zeichnen heisst weglassen", sagt Max Liebermann, und genau diese Möglichkeit haben wir bei der Analogen Fotografie nicht: Ich kenne in Namibia ein grossartiges Panorama, nämlich den Abbruch des Khomas-Hochlandes zur Wüste hin, mit wunderschönen Farben - nicht nur bei Sonnenuntergang. Grossartig. Atemberaubend. Für mich: Eines der Grossen Ausblicke dieser Welt. Und mitten durch läuft eine Stromleitung. (Antwort des Digital-Fotografen: "Einfach wegstempeln!")

Ceci n'est pas un pipe. Bild: Michael Albat

Sie haben doch sicher schon einmal das Gemälde von Rene Magritte gesehen, auf dem eine Pfeife abgebildet ist mit dem Schriftzug "Ceci n'est pas une pipe"? Stimmt, oder? Es ist dies keine Pfeife; es ist nur das Abbild einer Pfeife! Hossa: "Nur" das Abbild einer Pfeife? Wieso "nur"?

Es ist für den Erfolg eines Fotografen von entscheidender Bedeutung, die Eigenschaften des "Abbildes" zu kennen: Im Zuge der Ablichtung entfallen nicht nur Eigenschaften; es kommen auch welche hinzu - wenigstens für die menschliche Wahrnehmung.

So ein Foto ist ja, wenn man es sich recht überlegt, eine merkwürdige Sache. Nehmen wir einmal an, sie zeigen Ihrem Bello einen Abzug 30x45 cm, True Color, mit einer hübschen Pudeldame: Schweifwedelnd freundlich, jedoch voller Unverständnis wird er sie anblicken: Das Ding, das sie da in der Hand halten - essbar ist es doch nicht? Und: Hol's Stöckchen kann man auch nicht damit spielen, also, was soll das?

"Die Fotografie wendet sich nur an den Gesichtsinn", sagt Feininger, und wir können bekräftigend - und erweiternd - hinzufügen: "Die Fotografie wendet sich nur an den Gesichtsinn des Menschen" (Wollte Bello seine Wahrnehmung der Welt festhalten, so wäre es vermutlich eine Tonaufzeichnung: unter besonderer Berücksichtigung des unermesslich weiten Tonumfangs ausserhalb unseres, des menschlichen Hörvermögens)

Eine der ganz wesentlichen Eigenschaften zwar nicht jeder, wohl aber einer guten Fotografie - einer Photographie -, ist nun, dass sie sich zwar nur an den Gesichtssinn des Menschen wendet, aber eine emotionale Beteiligung des Betrachters auslöst – über die reine Erkenntnis "Aha: Tante Erna! Und Onkel Alfons!! Am Grand Canyon!" hinaus. Wir werden das Bild und das Thema im Kapitel 6 wieder aufgreifen und vertiefen; an dieser Stelle sei als Beleg nur auf Zuschriften zu Bildern von Jungtieren aller Art (inklusive Babys) aller nur denkbaren Abwandlungen von "Wie süüüüüss!" verwiesen. Aus eigener Anschauungen vermag ich noch beizutragen, dass insbesondere Bilder von holden Knaben mit (gold-)lockigen Haaren, auf Deubel-komm-raus ge-neat-et, in mir eine überaus starke emotionale Beteiligung auslösen: sie verursachen mir Brechreiz.

Ein fotogenes Motiv

Anschliessend werden die zehn meiner Ansicht nach wichtigsten fotogenen Eigenschaften aufgezählt. Je mehr von diesen Eigenschaften ein Objekt besitzt, um so grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass es wirkungsvoll im Bilde erscheint. Andererseits: je weniger dieser Eigenschaften es besitzt, um so grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass es ein enttäuschendes Bild ergibt.

Andreas Feininger, Die hohe Schule der Fotografie

An dieser Checkliste gefällt mir zunächst, dass Feininger uns Fotografen in gewohnter Prägnanz sagt, wie wir schöne Muster verfertigen können. Schön - aber (zunächst noch) belanglos. (Und: es sind mal wieder 10 Punkte!)

Mit der Beachtung dieser Punkten bereiten wir eine positiv ausfallende Bildbetrachtung vor. In einer ruhigen Stunde können sie sich ja mal Andreas Bildgestaltung hernehmen und herausfinden, wo die einzelnen Punkte eingehen. Klarheit und Einfachheit haben etwas mit seiner Informationstheorie zu tun, Kontrast hingegen ist ein eher technisches Kriterium.

Überhaupt: Betrachten wir ein Foto, das uns gefällt, und versetzen uns in die Lage des Fotografen zum Zeitpunkt des Auslösens, so erkennen wir, dass er die obigen Punkte beachtet hat. Natürlich nicht immer alle - bei einem Stillleben ist es ja schwierig, Spontaneität und Bewegung einzubringen, oder Tiefe bei einer verwitternden Tür -, aber doch die jeweils relevanten.

Warum ist das so, warum funktioniert "Fotogenität"?

Jetzt können wir es sagen: Das fertige Bild soll von uns und anderen Menschen betrachtet werden. Wir müssen es folglich so einrichten, dass es dem menschlichen Gesichtssinn wohlgefällig ist. Unser Gehirn jedoch ist immer noch das der Jäger und Sammler; zunächst darauf eingerichtet, Lebendes zu erkennen; Lebendes, das essbar, ein Feind oder ein Paarungspartner sein könnte. Lebendes - Tiere mehr noch als Pflanzen - erkennt das Auge an den Konturen und Kontrasten, auch an der Symmetrie.

Wichtig ist hierbei, dass diese Punkte noch allen Menschen gemein sind:
Auf dieser sehr tiefen, der "genetischen" Stufe funktioniert Fotografie noch als Weltsprache; hier ist sie noch unabhängig von dem Herkommen und der Kultur des Betrachters.

Frühkindlich erlernt ("tradiert") wird eine Bedeutung für Farben und Symbole, denken sie an das Grün und den Halbmond des Islam.

Erst darüber setzen die sich wandelnden Modeströmungen auf, die, im Laufe der Zeit, dem Vergessen anheim fallen und sich so als Sackgassen erweisen - oder als Kunst.
Kunst ist die Reaktion des Lebenden auf das Leben. Darum ist sie der Bericht, den die Zivilisation hinterlässt.
(John Sloan, Gist of Art, zitiert nach Feininger, The Creative Photographer S.77)

Ästhetik: Der Lebenszweck eines Fotos

Als das monumentale Inferno erschien, schrieb etwa der Rezensent des Boston Globe, Nachtweys Fotos seien die "schönsten Kriegsfotos", die in der Geschichte der Fotografie publiziert worden seien. Nachtweys Kriegsfotos, die eigentlich Anti-Kriegsfotos sind, erscheinen auf den ersten Blick durchaus ästhetisch. Doch das ist nur ein Mittel, nie Selbstzweck.
In Berlin sind neben vielen Schwarz-Weiss-Bildern auch einige farbige Fotos ausgestellt, darunter eine Serie von vier Einzelbildern aus Palästina. Auf diesen Fotografien dominiert das kräftige, minimalistisch gesetzte Kolorit: ein strahlend blauer Himmel, das gelbe Kopftuch eines Jugendlichen, das markante Orange der lodernden Flamme am Zünder eines Molotowcocktails, ein Foto, das einem einen bösen Schauder über den Rücken jagt. Auf einem anderen Bild aus der Palästina-Serie sticht inmitten von Betontrümmern in allen erdenklichen Graustufen ein pastellgelber Fleck heraus: die Reste einer Hauswand, vor der ein alter Mann in weissem Hemd und grauer Hose steht und sich an dem zu schaffen macht, was einst sein Laden war. Das wirkt in der Tat schön und voll elaborierter Ästhetik - allerdings nur bis zu dem Zeitpunkt, zu dem der visuelle Initialreiz der Erkenntnis weicht.

Ulrich Clewing, Ästhetik, die Angst macht in Frankfurter Rundschau

In aller Vorsicht sei jetzt die Behauptung gewagt: In der Feiningerschen Checkliste ist alles erwähnt, was wir mit der "Ästhetik eines Bildes" in Verbindung bringen.

Sie haben bestimmt schon gehört, dass Armut (vorzugsweise in südlichen Ländern) immer "ästhetisch" oder "pittoresk" dargestellt wird. Betrachtet man dies als eine Aussage, so kann man nur beipflichten: Ja, dem ist so! Es kann nämlich gar nicht anders sein: pittoresk [lat.-italien.-frz.], malerisch [schön] Wortstamm: Bild

Es gibt - ausser vielleicht in einem ganz primitiv technischen Sinne - keine guten und schlechten Bilder; was es aber gibt, sind interessante und uninteressante Fotos. Präzise: Es gibt Bilder, die angeschaut werden, und Bilder, die ebenso gut nicht-existieren könnten.

Der Unterschied zwischen beiden liegt in der Ästhetik. Nicht WAS, sondern WIE etwas abgebildet wird. Auch Bilder aus dem Schlachthof, mit viel rot und rosa, mit weissen Schürzen und schwarzen Messergriffen können ästhetisch sein. Oder eben - Kriegsbilder. In meiner freudlosen Jugend habe ich die Wände meines Zimmers geschmückt mit der Bildserie einer Atombombenexplosion über dem Mururoa-Atoll. Herrlich der weisse Atompilz vor dem blauen Himmel!

Zirkelschluss: Ein Bild, das niemanden zu interessieren vermag, nicht einmal seinen Schöpfer, hat seinen Lebenszweck bestimmt verfehlt. Damit aber ein Bild so interessieren kann, dass es angeschaut wird, muss es ästhetisch sein.

Es kann natürlich sein, dass zwar das Bild ästhetisch ist, das Dargestellte jedoch so scheusslich ist, dass man das Anschauen deshalb sofort abbricht: bis zu dem Zeitpunkt, zu dem der visuelle Initialreiz der Erkenntnis weicht.

Man kann Schweinehälften in einem Kühlbunker so abbilden, dass alle Punkte der Liste erfüllt sind, sogar Spontaneität und Bewegung, die auf Tätigkeit und Leben hindeuten.
Sehr viele Akt-Fotos fallen in diese Kategorie. Wenn ich da so an manche Torso-Bilder denke...

Probieren wir es einmal umgekehrt: Wenn man das Chaos in Form eines Bildes organisiert, so erhält man das organisierte Chaos. Wirklich chaotische Bilder "sieht" das menschliche Gehirn nicht, es vermag nur Ordnung, nicht aber Chaos zu erkennen, und daher ist Chaos unfotografierbar. Wohl kann man einen Film mit chaotischen Mustern füllen, wohl davon Abzüge fertigen - aber ein Foto ist ein Foto eben nur dann, wenn es wahrgenommen wird.

"Detailreichtum" ist natürlich etwas völlig anderes als Chaos. Detailreichtum meint, dass in grosse Formen kleinere Formen enthalten, und diese nochmals kleinere. Eine solche "Schachtelung" ist durchaus eine Ordnung, und zwar eine raffinierte - gegenüber dem üblichen oben-unten-rechts-links spannungsreichere und daher ästhetisch befriedigendere. Das Schwarzbrot unter dem Fastfood der Fotografie. Es ist wohl kein Wunder, dass die "Puppe in der Puppe" seit ewigen Zeiten ein russischer Exportschlager ist.

Das Foto: Optisches Fastfood

Ein Foto wirkt anders auf uns, als wir die darauf dargestellte Realität "im richtigem Leben" wahrnehmen. In diesem Abschnitt werden einige Gründe aufgezeigt, warum dies so ist. Dabei können wir schlankweg erst einmal all die Bereiche des Sehens und Festhaltens ausscheiden, die uns durch die Fotografie erst eröffnet werden, also die Bereiche, die uns neu und daher interessant sind. Damit gemeint ist nicht nur die Welt des Kleinsten", also Makro, sondern auch die Hochgeschwindigkeits-Fotografie, wie wir sie mit dem Namen Harold Edgerton verbinden. Als Beispiel wird ja immer die eine Kerzenflamme durchschiessende Kugel angeführt, aber da ich nun seit 25 Jahren ein friedlicher Bürger bin, denke ich lieber an die eingefrorene Bewegung der Stabhochspringerin. Auch in ästhetischer Hinsicht empfinde ich das als befriedigender.

Es war, als sähe man zum erstenmal, was man doch täglich vor Augen hatte. Einer der wichtigsten Punkte, weshalb das so ist, wird von Andreas F. kurz beschrieben mit "die Tiefe hat sie verloren": Wir sehen mit beiden Augen ("stereoskopisch"); die Fotografie erschliesst uns die Wahrnehmung der Welt der Einäugigen. (In der Regel werden wir ja eine einäugige Spiegelreflex-Kamera verwenden)

Ein Selbstversuch: Suchen sie sich einmal ein modernes Stahlrohr-Geländer, wie es in Betonbauten wie zum Beispiel Hochgaragen verwendet wird. Diese Geländer werden durch Winkel mit zwei gegenüberliegenden Schrauben auf dem Boden befestigt. Betrachten sie nun eine solche Befestigung einmal aus normaler Augenhöhe von oben, also am Geländer entlang: sie können beide Schrauben erkennen. Wenn sie nun ein Auge zukneifen, - wie die Optik es sieht - so erkennen sie, dass sie nur noch eine Schraube erkennen können: Die andere ist abgedeckt. Um beide Schrauben sehen zu können, müssen sie die "Perspektive" verändern, sich also beispielsweise auf die Zehenspitzen stellen. Machen sie jetzt das Auge wieder auf, so sieht der betrachtete Ausschnitt ganz anders - nämlich viel weiter - aus.

Was folgt daraus?

Wenn sie eine Aufnahme einer solchen Befestigung machen, so werden sie - ganz unabhängig von den eingesetzten bildgestalterischen Mitteln - ein Bild erhalten, das nur den Einäugigen unter uns vertraut ist. Zwar kann Ihnen jeder Betrachter sagen, dass hier die Befestigung eines Geländers abgebildet wurde, aber... es ist etwas anderes, als wenn der Betrachter die Befestigung selbst sehen wurde: die Perspektive, die Sichtweise ist eine andere als die des normalen Betrachters.

Das Bild hat einen Rand

Ein weiterer schwerwiegender Unterschied zwischen der Realität und ihrem fotografischen Abbild besteht darin, dass der Blick in der Realität frei schweifen kann, während er im Foto "gefangen" ist. In diesem Kapitel beschäftigen wir uns ja noch mit der passiven Bildbetrachtung. In dem Abschnitt Ausschnittsbestimmung werde ich meine Sichtweise erläutern, dass nämlich die Gestaltung eines Bildes sehr wesentlich von dem Schnitt abhängig ist, mit dem wir das Drinnen von dem Draussen abtrennen. Gestalten wir den so entstehenden Rand vernünftig, so wird sich das Bild darin dann schon selbst gestalten!
(Na ja: so wird sich uns die Gestaltung des Bild-Inneren wie von selbst eröffnen.)

Schärfentiefe

Stellen sie sich vor, sie stehen an einem klarem Sonntagmorgen auf einer Autobahnbrücke, genau in der Mitte über der beiden Spuren, Sichtweite 10km. Auf der einen Spur kommen Ihnen zwei Autos entgegen, das eine ist 100m, das andere in einen Kilometer entfernt.
Blitzartig reissen sie die Kamera hoch, 1/250 sec bei Blende 22. ZZZZack!
Was haben sie im Kasten? Ein Bild, das sie in der Natur nie gesehen haben.
Denn: Was sie gesehen hätten, wäre entweder der Horizont oder das erste Auto oder das zweite Auto oder die noch leere Autobahn im Vordergrund. So nämlich fokussiert das menschliche Auge, und so selektiert das menschliche Gehirn. Das wird dabei allerdings durch andere Sinneswahrnehmungen abgelenkt: Durch das asthmatische Röhren des rumänischen LKWs auf der anderen Spur, oder das gequälte Keuchen des gerade überholenden holländischen Gespanns. Durch den Wind. Durch die schon spürbare Wärme des aufziehenden Sommertages. Durch den Hundekot unter Ihren Sohlen.

Betrachten sie hingegen das Bild, so sehen sie alles, und das auf einen Blick.
Einmal ganz abgesehen davon, dass all die anderen Sinneswahrnehmungen schon entfallen sind und also nicht mehr aussortiert werden müssen, braucht sich auch unser Auge nicht mehr auf die verschiedenen Ebenen scharf zu stellen. Unser Gehirn braucht nicht mehr viel zu tun.
Für unseren Gesichtssinn ist ein Foto optisches Fastfood.

Das Wort Fastfood hat nun einen schlechten Beigeschmack, wenn ich mir diese Anspielung erlauben darf. Eigentlich zu Unrecht, denn auch ein Apfel ist Fastfood, jedoch leicht, schmackhaft und gesund. (Bananen hingegen sind kein Fastfood: laut Knigge müssen sie mit Messer und Gabel geöffnet und gegessen werden. Mich hat's erstaunt...)

Das Foto und seine "Technischen Daten"

In den Bildseiten dieses Buches werden keine "technischen Daten" den fotografischen Illustrationen als Ergänzung beigegeben. Wenn man sie auch in jeder Fachzeitschrift findet, sind doch solche Angaben - Kamera, Blende, Belichtungszeit usw. - wertlos und irreführend. Ich sehe einfach nicht ein, warum man darin einen Unterschied machen soll, ob ein Bild mit, sagen wir, einer Leica an Stelle einer Pentax, einer Rolleiflex an Stelle einer Rolleicord aufgenommen worden ist, oder was es dem Fotografen helfen kann, wenn er erfährt, dass das veröffentlichte Bild eines Motivs, das ihn interessiert, beispielsweise mit 1/60 Sekunde bei Blende 11 fotografiert wurde, solange er nicht gesagt bekommt, wie hell das Licht war oder welche Art von Beleuchtung vorherrschte. [...] Technische Daten der Aufnahmen anderer, selbst wenn sie ganz ehrlich und vollständig sein sollten, was meistens jedoch nicht der Fall ist, sind wertlos.

Andreas Feininger, Feiningers grosse Fotolehre, 1979 S.442f

Das einleitende Zitat ist ein wenig irreführend, deshalb habe ich es hineingesetzt. Es soll hier nicht um die "technischen Daten" bei der Aufnahme gehen, sondern um die "technischen Daten" des Fotos, also des Abzugs oder des Negativs. Ja, so etwas gibt es! Feininger aber konnte damals ja noch nicht wissen, was heute jeder Besitzer eines EBV-Programms kennt.

Helligkeit, Grauwert-Umfang, Körnung und Kontraste, die Schärfe, von Unschärfe bis Überschärfe - alles messbar. Histogramme, Torten, Kurven und griechische Buchstaben in jeder Menge. Nun nicht, dass ich etwas dagegen hätte! Keine Rede davon! Muss man alles wissen, wenn man diese Software sinnvoll einsetzen möchte.

Etwas anders aber ist es, wenn man ein Bild mit solchen Vokabeln beurteilt. "Gute Tonwert-Verteilung!" liest man da, oder auch "Schlechter Kontrast". Solche Kommentare können nur von Leuten kommen, die an der Technik interessiert sind. Aber nicht an dem Bild. "Wer etwa ein Bild beschreiben will, kann viel vom Material der Leinwand erzählen, von der Muskelkraft des Malers und der Chemie der Farben. Dabei wird man alles Mögliche verstehen, nur nicht das Gemälde selbst." Ernst Peter Fischer

Nach meiner Ansicht ist alles technisch Messbare - wie etwa die oben genannten Begriffe - bei der Bildbeurteilung irrelevant. Sie sagen hierzu nichts aus. Sie sind sinnvoll erst bei der Analyse. Wobei allerdings nicht das Bild analysiert wird, sondern das Urteil, was wir über das Bild haben: Die technischen Daten liefern die Argumente, um die gewünschte Aussage zu stützen. Einige Kommentatoren geben dem auch Ausdruck. "Schön, wie die Körnigkeit die Bildaussage unterstützt!" steht dann etwa da. Was mich persönlich immer dazu reizt, unter ein Bild des Kommentators ein heuchlerisches "Schön, dass Du die Belichtung so gut getroffen hast" zu schreiben. Oder "Wie gut Du mit Deiner Leica umgehen kannst!". Oder auch, eingedenk des Geleitzitats: "Hätte nie gedacht, dass man mit einer Pentax solche Bilder machen kann". Was ich denn doch nicht tue, weil ich ein höflicher Mensch bin. Ich gehe nämlich davon aus, dass ein Bildautor die Technik beherrscht, und sie folglich in den Dienst der Sache stellt. So dass ich die Sache loben kann, und nicht die sie nur unterstützende Technik.

Nun sind nicht alle Anhänger der "Bildbeurteilung by Computer-Programm" nur unhöflich.
sie glauben tatsächlich, dass der wahre Wert eines Bildes in seiner technischen Perfektion liegt.
Es ist viel schwieriger, so erklären sie mir, das destillierte Wasser der Information und den chemisch reinen Alkohol der Ästhetik herzustellen, als Cognac zu brennen oder Whisky zu destillieren: Da werden ja die ganzen Fuselöle des emotionalen Gehalts in das Destillat überführt!

So rechtes Zutrauen in die Aussagekraft ihrer Bilder scheinen sie dann am Ende aber doch nicht zu haben, denn nicht pur, sondern mit Chartreuse grün, Curaçao blau oder der bekannten braunen Brause sepia getont kredenzen sie uns ihr Gebräu.