6. Die Kunst der Andeutung

Autor: Michael Albat

Jahrelang hatte ich ständig auf eine Fotografie geblickt, die Walker Evans im Sommer 1936 im Süden aufgenommen hat. Ich dachte erneut an sie, als ich mich bereitmachte, in den Süden zu fahren. An der Kreuzung zweier staubiger, unbefestigter Strassen steht ein baufälliges Haus mit einer kleinen Veranda und einer einzelnen Zapfsäule. Kein menschliches Wesen in Sicht. Die starke Hitze und das grelle Sonnenlicht müssen die dort Ansässigen dazu gebracht haben, Schatten zu suchen. Die Läden der zwei Fenster im Obergeschoss sind geschlossen bis auf wenige Stellen, wo die Lamellen zerbrochen oder entfernt worden sind. Der Postmeister und seine Frau, die die Zapfstation und das Geschäft führen, halten wohl gerade einen kleinen Mittagsschlaf, Zeitungen über dem Gesicht gegen die Fliegen. Im Erdgeschoss, im kleinen Nebenraum mit Waage und mit Reihen von Behältern für die Post, liegen ein paar Briefe, deren Empfänger zu weit weg wohnen oder zu selten Post kriegen, als dass man sich die Mühe des Weges machte. Eine Fotografie, auf der so wenig sichtbar und so viel vorstellbar ist wie auf dieser, lädt zu endlosen Vermutungen ein. Es gibt nichts Alltäglicheres, nichts Amerikanischeres als das, was darauf abgebildet ist: ein kleiner Ort, durch den man auf dem Weg nach irgendwohin anders fährt, ohne den Blick zu heben.

Charles Simic, Zu Besuch dort unten Neue Zürcher Zeitung 7. März 2005

Falls sie sich gefragt haben sollten, woher ich im Kapitel Kunst den folgenden Abschnitt her habe: Jetzt wissen sie's. Ein Kunstwerk muss ein Geheimnis haben. Fragwürdig muss es sein, Zum Nachdenken anregen, Platz für die eigene Vorstellungskraft lassen, Subtilität und Suspense aufweisen.

Es ist dies ein typischer Begriff, der den Konflikt zwischen Bildgestaltung und Bildwirkung deutlich macht: Für jedes Foto können wir sagen, ob es - für uns - ein Geheimnis birgt, Subtilität und Suspense aufweist. Aber dafür Regeln für die Bildgestaltung anzugeben, ist nicht möglich. Im Geleitzitat zum letzten Abschnitt sagt Andreas Feininger: Dieses letzte Notwendige zum Erfolg, das schöpferische Gestalten, kann nicht gelehrt werden.
Es ist geradezu tragisch: Da, wo Bildgestaltung erst richtig interessant wird, hören die Regeln auf. Das ist hauptsächlich deshalb so, weil hier wieder die Fotografische Kette ins Spiel kommt, und der Betrachter die entscheidende Stimme hat.

Nehmen wir etwa an, sie wollten dokumentieren, dass Tante Erna und Onkel Alfons am Grand Canyon waren. Um ein wenig Bildgestaltung kommen sie, auch bei bescheidensten Ansprüchen, nicht herum: Tante Erna und Onkel Alfons müssen ja erkennbar sein, vorzugsweise durch das Gesicht. Die eher schlichten Gemüter unter uns - die Vertreter der fotografischen Holzhammer-Methoden, sozusagen - werden die beiden jetzt neben dem von einer vorausschauenden Parkverwaltung zu genau diesem Zweck bereitgestelltem grossen Schild mit der Aufschrift "Grand Canyon, Colorado, USA" plazieren, und dabei auch für die überquellende Mülltonne reichlich Platz vorsehen. Und dann: frisch ausgelöst. Fertig - das Bild ist gestaltet. Diese Gestaltung reicht, um Tante Hertha und Onkel Herbert neidisch zu machen, und das war ja schliesslich der Zweck der Übung: Eine starke emotionale Beteiligung auslösen - mehr können wir von einem Bild nicht verlangen. Onkel Reinhold hingegen wird das Bild vielleicht nur eines flüchtigen Blickes würdigen - weil er kontern kann mit seinem Bild "Ich - und 8,850 km Mount Everest unter mir". Ein gereifter Geschmack jedoch wird subtilere Methoden und eine weniger ungestalte Bildgestaltung vorziehen. Und das schon deshalb, weil sich Tante Hertha über ein wohlgestaltes Bild viel mehr ärgert.

Bei der Motivwahl für euere Bilder kommt es nicht so sehr darauf an, was ihr seht noch wie ihr seht, sondern vor allen Dingen darauf, was ihr darin seht. Mit anderen Worten: Es ist weniger wichtig, wie ihr etwas fotografiert, sondern warum ihr es tut. Das Warum ist der Schlüssel zum Wie. Wenn ihr wisst, warum ihr ein bestimmtes Motiv fotografieren möchtet, dann ergibt sich das Wie ganz von selbst; es folgt aus dem Warum.

Andreas Feininger, Richtig sehen - besser fotografieren, 1973

Das Problem bei der Andeutung, oder meinethalben auch der Anspielung, besteht für den Fotografen zunächst darin, dass er sein Thema intellektuell durchdrungen haben muss: Was soll angedeutet werden, und wie stark kann die Andeutung komprimiert werden, ohne dass der Sinn des Ganzen hinfällig wird? Dies ist wesentlich eine Einschätzung des Betrachters: Wieviel Zeit wird er in die Betrachtung investieren? Wird er die Anspielung verstehen, stimmen also die "kulturellen Bilder" des Fotografen mit denen des Betrachters überein? Ein Bild aus Ruanda zeigt nur ein paar Macheten auf dem Boden. Aber das genügt vollkommen. Tut es das? Vielleicht. Wenn der Betrachter weiss, etwa durch die Einordnung dieses Bildes in einen Serie, dass es sich bei diesem Bild nicht um eine Darstellung überaus nützlicher landwirtschaftlicher Geräte handelt. Wenn für ihn "Ruanda" nicht nur ein Land irgendwo in Afrika ist.

Dem Missionar Bam, der fragte, warum er nicht gleich die kranken Kinder aufnehme, antwortete Schutz: Man müsse das Fürchterliche im Gesicht der Frau erkennen können. Das Entsetzliche direkt gezeigt, stosse den Betrachter nur ab.

Uwe Timm, Morenga

Bild: Michael Albat

Und vor allem: Reichen die intellektuellen Fähigkeiten des Betrachters zum Zünden der Bildidee aus?

Ein grosser Teil der Betrachter dieses Bildes riet mir, das "Schwänzchen" unten links schlicht wegzustempeln...

Betrachten wir das Bild Downtown Skyscrapers near the Hudson River von Andreas Feininger. Ein Schlepper ist wesentlich charakterisiert durch die Form seines Hecks. Also, hat sich unser Andreas gesagt, wenn ich will, dass man einen Schlepper erkennt, dann brauche ich nur das Heck zu zeigen. Und den Rest des Negativs kann ich voll für die Downtown Skyscrapers near the Hudson River verwenden! Und wenn ich deutlich machen will, dass er gerade vorbeistampfte, brauche ich nur ein bisschen Dampf! Bei dem Wetter heute! (Es war gerade März, ungemütlich kalt und windig, wie man heute noch an dem kabbeligen Wasser erkennen kann.) Gesagt, getan - noch ein paar warme Socken hat er sich angezogen und ist ab mit der Ausstattung an den Hudson River. Aufgebaut, ein bisschen gewartet, abgedrückt - und fertich is die Laube. Und dann ist er weg, einen heissen Glühwein trinken. Ich weiss natürlich nicht, ob es genau so war. Kann sein, er hat einen steifen Grog getrunken. Verdient hat er ihn sich! Sie merken schon: Das obige Bild ist mein Lieblingsbild von Andreas Feininger. Nicht zuletzt deshalb, weil es vom hintergründigen Humor des Fotografen zeugt - "Puff Puff Puff - weg war er...". Ich meine jetzt um Gotteswillen nicht den schenkelschlagenden Knallchargen-Humor; Onkel Hubert, dem ein Hirschgeweih aus dem Kopf zu wachsen scheint oder so etwas, wohlmöglich noch elektronisch verfremdet! Das nicht!

Aber auch der herrlich subversive Humor Helmut Newtons wirkt auf mich immer aufbauend, wenn dieses kleine Wortspiel gestattet ist. Bei dem Betrachten seiner Big Nudes entringt sich mir immer wieder ein "Mächtig! Prächtig! Prall! Pravo!" Besonders das arische Gretchen, mit entsprechender Frisur, aber in Stöckelschuhen (ich glaube, Big Nudes 2), ist doch witzig: Helmut Newton wurde doch wegen seiner nicht-arischen Abstammung vertrieben! Oder ein Bundeskanzler, der sich mit einem schäbigen Koffer in dunklen Ecken herumdrückt...

In dem Buch "Let Us Now Praise Famous Men", Text James Agee, Bilder von Walker Evans, gibt es das wunderschön gestaltete Bild des Schlafzimmers in dem Bretterhaus einer Pächter-Familie. Die sorgliche Hausfrau hat offensichtlich gerade frische, sonnengebleichte Bettwäsche aufgezogen. Herrlich ästhetisch, das alles. Wunderbar anzuschauen. (Evans war Mitglied der Gruppe f64: Von vorn bis hinten ist alles scharf.) Man kann sich gar nicht sattsehen. Nur... da sind überall so merkwürdige schwarze Punkte?!?... Fliegen. Es sind Fliegen. Überall... Fliegen. Das Bild "an sich" sagt nichts über die sanitären Verhältnisse aus, aber wenn - und das heisst hier: falls - wir das Bild anschauen, und dann darüber nachdenken, dann können wir, nicht mit den Augen, wohl aber mit dem Verstand, Rückschlüsse ziehen. Sehr wahrscheinlich hat Evans auch eine ganze Reihe von Bildern des Plumpsklos gemacht. Aber zur Veröffentlichung wurde keines davon ausgewählt - in dem Amerika der 30-er Jahre auch anders kaum anders denkbar. Man hat mir erzählt, dass das wirklich Bahnbrechende des Films Psycho (1961) von Alfred Hitchcock gewesen sei, dass zum ersten Mal in der Geschichte des Films eine Toilette gezeigt worden sei.

Nachtwey, darin besteht seine Grösse, ist kein Sensationsfotograf. Ihm gelingt es immer wieder, die Gesetze einer Branche ausser Kraft zu setzen, in der grösstmöglicher Schrecken gleichbedeutend ist mit dem grösstmöglichen Honorar. So merkwürdig es klingen mag - Nachtweys Bilder sind oft in hohem Masse künstlerisch. Sie erzielen ihre Wirkung durch Subtilität und Suspense, zwei Eigenschaften, die ein Fotograf nur dann erlangt, wenn er weniger fotografiert als er sieht, weil er sich im Klaren ist, wie mächtig die Kraft der Vorstellung sein kann. Vor vier Jahren hat Nachtwey im Kosovo ein Foto gemacht in einem Haus, in dem ein Mann von Serben getötet wurde: Was man darauf erkennt, ist ein schemenhafter, heller Körperabdruck auf dunklem Grund, nicht mehr. Ein Bild aus Ruanda zeigt nur ein paar Macheten auf dem Boden. Aber das genügt vollkommen. Und bald merkt man, dass in diesem leicht verzögerten Erkennen der grosse Vorteil der Fotografie im Vergleich zu Film und Fernsehbildern besteht. Ein Film läuft weiter, seine Bilder rauschen an einem vorbei. Ein Foto bleibt und drückt sich tief ins Gedächtnis hinein.

Ulrich Clewing, Sparsamkeit statt Sensation: Die Fotografien des amerikanischen Bildreporters James Nachtwey in Berlin

Abschliessend möchte ich noch einmal auf den Entscheidenden Moment des vorigen Kapitels zurückkommen. Noch einmal, denn für Andreas F. war der Entscheidende Moment ja gerade der, als der Schlepper schon fast vorbei war.

Vor vier Jahren hat Nachtwey im Kosovo ein Foto gemacht in einem Haus, in dem ein Mann von Serben getötet wurde: Was man darauf erkennt, ist ein schemenhafter, heller Körperabdruck auf dunklem Grund, nicht mehr. Der Mann ist längst tot, seine Leiche seit geraumer Zeit beseitigt. Und trotzdem war der Moment, in dem Nachtwey sein Bild gemacht hat, ein entscheidender.