4. Das Langzeitthema

Autor: Michael Albat

... und immer wieder vor den Halbmenschen, jene merkwürdigen Bäumen, die er aus den unterschiedlichsten Perspektiven und zu den verschiedensten Tageszeiten ablichtete [...], bis ihm schliesslich jene einzigartige Aufnahme glückte, die einen Halbmenschen in der abendlichen Dämmerung zeigte und - unaufdringlich - etwas von jener fernen Trauer in sich trägt, die Schultz nicht nur in den Gesichtern, sondern auch in der Landschaft entdeckt hatte.

Uwe Timm, Morenga

Unserer wackerer Schultz hier, das ist doch mal ein echter Profi. Aber trotzdem vermochte er am Anfang von den Halbmenschen kaum mehr zu sagen, als das sie ihn faszinierten - ohne jetzt aber sagen zu können, was genau das Faszinosum denn nun ausmachte, geschweige denn, dieses in einem ihn überzeugenden Bild auszudrücken. So wurde ihm - zur Frage des Tageslichtes - erst nach einem Prozess des "Ausprobierens und Verwerfens" klar, dass nur eine Aufnahme in der abendlichen (und eben nicht der morgendlichen) Dämmerung die Stimmung der fernen Trauer unaufdringlich vermitteln konnte. Wir dürfen als sicher annehmen, dass auch die ausgewerteten Erfahrungen der vorher ausprobierten unterschiedlichsten Perspektiven in den Aufbau zu der einzigartigen Aufnahme eingingen.

Andererseits habe ich immer wieder festgestellt, dass Leute, die nur am Fotografieren an sich interessiert sind, es nicht weit bringen. Sie gehen von einer Fotoschule zur anderen, nehmen an Fotokursen teil, arbeiten als Assistenten bei bekannten Fotografen, lesen alle empfohlenen Bücher, tragen enzyklopädische Kenntnisse zusammen über alles, was mit Fotografie zusammenhängt, besitzen die modernste und beste Ausrüstung - und haben kein einziges sehenswertes Foto vorzuweisen. Sie sind meisterhafte Fototechniker und wissen alles über Fotografie - bis auf eines: Wie sie dieses Wissen in bedeutungsvolle Bilder umsetzen sollen. Sie flattern von Motiv zu Motiv, fotografieren heute Menschen und morgen Landschaften, nehmen Stillleben mit derselben Begeisterungs- und Interesselosigkeit am Gegenstand auf wie Babys oder Schosshunde. Ihre Bilder sind technisch unanfechtbar - und völlig gefühllos, weil sie eben nichts für ihre Motive fühlten, sondern nur an der Aufnahmetechnik interessiert waren. Ihr grösster Stolz ist es, 35mm-Negative zu machen, die sich zu kornfreien 40x50-Vergrösserungen "aufblase

Andreas Feininger, Richtig sehen - besser fotografieren, 1973, S.134

Und was müssen wir Nachgeborenen nicht alles zusätzlich ausprobieren: Zumindest verschiedene Brennweiten und Optiken, und Filme und Filter und was noch alles. Und in unseren Breiten haben wir - weit mehr als Schultz im südlichen Afrika - auch noch die Jahreszeiten zu berücksichtigen!

Bild: Michael Albat

Jeder Fotograf sollte wenigstens ein Langzeit-Thema haben: Suchen sie sich ein Thema oder ein Motiv, das zunächst sie interessiert UND an dem sie mindestens ein Jahr lang arbeiten können. Ich will damit nicht sagen, dass sie nur oder auch nur vorzugsweise an diesem Thema arbeiten sollen - bestimmt nicht. Das Langzeitthema dient eher als Ruhepol im fotografischen Schaffen - wenn gar nichts mehr läuft, dann macht man eben das. Und wenn auch hier jetzt nichts läuft, dann bereitet man eben Künftiges vor.

Nachdem sie sich ein Langzeit-Thema ausgesucht haben, dürfen sie sich zur Belohnung nun als Vertreter der "Konzept-Fotografie" bezeichnen.

Das Langzeit-Thema sollte weiterhin so gewählt sein, dass es Ihnen die Möglichkeit bietet, zurückzukehren und die Unzulänglichkeiten zu korrigieren, die Ihnen an den Bilder der vorangegangenen Male aufgefallen sind. Streetlife- und Sport-Fotografie eignet sich als Langzeit-Thema also weniger. Noch weniger eigenen sich nur Portrait und Akt: Wie man mir erzählt, sind die Erfolge von Helmut Newton und Peter Lindbergh nicht so sehr auf ihre überragenden foto-technischen Fähigkeiten zurückzuführen, sondern auf ihre Gabe, während der Sitzung mit den Portraitierten einen Kontakt herzustellen - wie soll man es sagen - auf der Ebene zwischen Mensch und Mensch, und eben nicht auf Basis Fotograf und Prominenter; sie zu entspannen... und dann brauchen sie nur noch abgelichtet zu werden. Sie sind wohl eher in dem Sinne gute Fotografen, als dass es ihnen gegeben ist, sich die "gut fotografierbare" Realität zu schaffen.

Die "Unzulänglichkeiten" werden bei dem Einsteiger eher technischer Natur sein, später werden sie eher im bildgestalterischen Teil liegen. Das Langzeit-Thema dient dazu, in den von Andreas vorgeschlagenen Prozess des "Ausprobieren und Auswerten" einzusteigen.

Grundsätzlich sind es die bei Uwe Timm angesprochenen zwei Punkte Perspektive und Licht (oder auch Der richtige Moment), die es dem Fotografen ermöglichen, demselben Motiv immer wieder neue Facetten abzugewinnen.

Die Frage des Lichtes ist mir so wichtig, dass ich einen eigenen Punkt daraus gemacht habe.

Zur Frage der Perspektive hat Andreas ja schon einiges beschrieben. Bei der Bearbeitung des Langzeit-Themas betrachten wir die Perspektive mit den Unterpunkten Ausschnitts-Bestimmung und Abbildungsgrösse jetzt aber nicht unter dem Aspekt Wie wirkt das Muster bei unterschiedlichen Perspektiven? oder Wie wirken sich unterschiedliche Perspektiven auf das Muster aus?, sondern wir fragen, welche Perspektive dem Motiv gerecht wird.
Ein Beispiel: Nehmen wir an, sie entdecken bei einem Spaziergang einen alten Traktor am Wegesrand. "Dolle Sache", denken sie, "Das Ding steht hier schon ewig und wird hier auch noch ewig stehen; da kann ich im Winter herkommen, wenn Schnee liegt und das verblasste Grün mit dem knallblauen Winterhimmel kontrastiert, und morgens, wenn die schräg stehende Sonne den Motorraum erhellt, und nach Regen gibt es Spiegelungen, und im Herbst liegen Blätter auf dem Metall...". Das ist nun alles wahr, und mit ein wenig Mühe werden sie in der Tat auch jede Menge schöne Bilder herstellen, von Technik-Details, über Räume und Flächen bis hin zu ganz abstrakten Licht-Schatten-Bildern.

Das alles ist ja nun überaus erfreulich, aber mit dem Traktor beschäftigen sie sich ja doch eigentlich nicht? Um es brutal zu formulieren: Wenn sie den Traktor lediglich als Material zum Verfertigen von Mustern betrachten, dann haben sie den Sinn des Langzeitthemas nicht begriffen. Denn: Was ist an dem Traktor interessant? Er ist alt. Er ist kaputt. Er wurde verlassen. Er steht im Gelände. Er steht im Gelände - das Gelände ist bewaldet oder landwirtschaftlich genutzt. Er steht bei Wind und Wetter in landwirtschaftlich genutzten Gelände. Er steht bei Wind und Wetter in dem landwirtschaftlich genutzten Gelände, zu dessen Nutzung er benutzt wurde. Es hat Folgen, dass er bei Wind und Wetter...
Mache ich deutlich, was ich meine? Das Langzeitthema dient dazu, Ihre Sicht auf das Motiv zu klären! So furchtbar schwierig ist es nun auch wieder nicht, gut gestaltete Bilder herzustellen, wenn man Andreas Bildgestaltung sorgfältig durchgelesen und etwas experimentiert hat. Trinkspiritus halt: Schön - aber belanglos. Wenn sie Spass daran haben, so etwas herzustellen: Fein, machen sie! Es ist Ihre Zeit und Ihr Geld. Aber: Warum sollte ich mir Ihre schön gestalteten Bilder anschauen? Ich bin naiv: Ich glaube Ihnen auch so, dass sie das können. Und eigentlich interessieren mich Ihre foto-technischen Fähigkeiten auch nicht.

Wenn sie mir aber den Traktor zeigen in kongenialem Licht zur Verlassenheit - also nicht gerade in bunt im strahlenden Morgenlicht; wenn sie mir die Folgen von Wind und Wetter zeigen, kurz: Wenn sie mir Ihre Antworten zeigen, dann werde ich mich mit Ihren Fragen befassen.

Kehren wir noch einmal zu Schultz zurück:

... und immer wieder vor den Halbmenschen, jene merkwürdigen Bäumen, die er aus den unterschiedlichsten Perspektiven und zu den verschiedensten Tageszeiten ablichtete [...], bis ihm schliesslich jene einzigartige Aufnahme glückte, die einen Halbmenschen in der abendlichen Dämmerung zeigte und - unaufdringlich - etwas von jener fernen Trauer in sich trägt, die Schultz nicht nur in den Gesichtern, sondern auch in der Landschaft entdeckt hatte.

Schöne Aufnahmen von den Halbmenschen hat Schultz wohl auch schon vor "jener einzigartigen Aufnahme" verfertigt, aber eben keine, die unaufdringlich - etwas von jener fernen Trauer in sich trägt. Für mich ist belanglos, ob Schultz Künstler ist oder sich als solcher nur fühlt; belanglos, ob seine vorherigen Bilder schön oder gut oder auch nur interessant gewesen sind. Belangvoll ist einzig, dass er sich nicht eher zufrieden gab, als bis er seine persönliche Art, die Halbmenschen zu sehen, im Bild ausgedrückt fand.

Ausschnittsbestimmung

Mal was Provokantes?

Die Ausschnittsbestimmung dient dazu, das Bild mit seinem Rand zu versehen: Der Ausschnitt bestimmt über das "Drinnen" und das "Draussen".

Zunächst einmal auf der primitiv-technischen Ebene: Die Wahl des Ausschnitts- zusammen mit der Auswahl des Objektivs und der Blende - dient dazu, das entstehende Muster so zu gestalten, dass man das Foto überhaupt betrachtet: Klarheit und Einfachheit in bezug auf Anordnung, Form und Farbe steht nicht umsonst ganz oben auf der Liste. Mit dem Ausschnitt bestimmen wir, was der Betrachter nachher "im Rahmen des Bildes" zu sehen bekommt.

Bei der Bearbeitung des Langzeitthemas geben wir uns aber nicht mit der Herstellung "schöner Muster" zufrieden, sondern wir stellen einen weitergehenden Anspruch an den Ausschnitt: Er dient hier der "Konzentration auf das Wesentliche", und zwar auf das "Wesentliche des Motivs". Die Welt ist gross, und der Bildwinkel eines Objektivs ist auch gross, und die Umweltverschmutzung macht vor der Fotografie nicht halt: Es besteht immer die Gefahr, dass das uns Faszinierende verwässert wird durch Überflüssiges, Nicht-zur-Sache-Gehöriges, kurzum: Ablenkendes. Und das muss weg - also müssen sie sich darüber klar werden, was der Kern sein soll.

Manche Leute haben Glück: Denen springt das Wesentliche immer unmittelbar ins Auge. Zu diesen Leuten gehöre ich nicht. Wenn mir etwas unmittelbar auffiel, dann war es spätestens bei der Betrachtung des fertigen Bildes banal - und aus diesem Grunde nicht wesentlich. Ich muss den "richtigen" Ausschnitt erst mühsam suchen - schon weil ich zu Anfang nicht weiss, was das "Wesentliche" denn ist. Und dabei hat sich bei mir das "Ausschluss-Verfahren" bewährt: Ich konzentriere mich auf die Frage, was ich noch ausschliessen kann, und nicht auf das, was im Ausschnitt eingeschlossen bleibt. Vorerst genug davon: Im Abschnitt Die Kunst der Andeutung werde ich auf dieses Thema wieder zurückkommen.

Dafür also das Bücken und Beugen, das Schrauben und Schnauben am Stativ! Wenn soweit alles schön ist, uns der Hintergrund aber stört, dann müssen wir eben ein längeres Objektiv verwenden, also... alles drei Meter zurück - und von vorn begonnen!
Es handelt sich bei der Ausschnittsfestlegung um einen intellektuellen Prozess: Das Erkennen des Wesentlichen des Motivs mit dem Ziel, das Unwesentliche auszuschalten. Das Motiv legt den Ausschnitt fest, und nicht die Technik, und schon gar nicht die Ausrüstung!
Ein solcher Prozess benötigt aber Zeit. Sehr häufig wird man erst hinterher, bei der Betrachtung des Ergebnisses feststellen, was jetzt noch überflüssig ist, was weiter reduziert werden kann - also beispielsweise die Schärfe-Ebene. Und da ist es von Vorteil, wenn man zurückkehren kann, um auszuprobieren, ob der Gedanke näher an das gewünschte Ergebnis führt.

Gehen wir die Ausschnittsbestimmung noch einmal von einem anderen Ansatz her an, vom Gegenteil: Von der "Überladung von Bildern": Überladene Motive wirken unordentlich und verwirrend - eine unfotogene Charakteristik von Anfängern, die fest entschlossen zu sein scheinen, soviel wie nur möglich in ein Bild hineinzustopfen. Offenbar hegen sie den Glauben, was dem umherschweifenden Auge gefällt, müsse auch in Bildform wirkungsvoll sein, und vergessen dabei, dass ein Bild feste Grenzen hat; je mehr sie in diesen engen Rahmen hineinzwängen, desto kleiner und unscheinbarer wird alles. Diese ganz und gar unfotogene Gewohnheit werden sie nur dann ablegen, wenn sie lernen, "fotografisch zu sehen" - in diesem Zusammenhang: ein aus vielen Einzelheiten bestehendes Motiv optisch zu zerlegen und einzelne Teile getrennt zu fotografieren.

Andreas Feininger, Richtig sehen - besser fotografieren, 1973

Wenn Feininger vom fotografischen Sehen spricht, so meint er eigentlich, dass sich der Fotograf eine deformation professionelle zulegen soll: Er sieht die Realität nicht mehr, wie normale Menschen sie wahrnehmen; er sieht sie... anders.

Wie anders?
Nun, zunächst lässt natürlich auch der erfahrene Fotograf sein Auge umherschweifen; anders könnte er ein mögliches Motiv ja auch gar nicht erkennen. Nachdem nun aber der normale Mensch wie der erfahrene Fotograf den roten Klatschmohn im grünen Kornfeld bei blauem Himmel oder die roten Äpfel in den grünen Blättern bei blauem Himmel als mögliches Motiv erkannt haben, wird sich der erfahrene Fotograf "automatisch" fragen, was denn "das Wesentliche" ist. Hier ist es der Farbkontrast Äpfel, Blätter, Baum und Himmel. Er wird damit beginnen, das Motiv entsprechend zu zerlegen: Er wird nach einem Rahmen suchen, innerhalb dessen sich "das Wesentliche" zeigt. Davon gibt es unendlich viele, der Fotograf muss nun auf die Suche ausdehnen auf die "fotografierbaren" Teile - oder auch umgekehrt: er muss "un-fotografierbare" Teile ausscheiden.

Manche Fotolehrbücher behaupten, der erfahrene Fotograf sähe, wie der jeweils gewählte Ausschnitt auf dem Bild erscheint. Na jaaaaaa... mir scheint, das ist nur die halbe Wahrheit. Richtig ist wohl, dass er das Muster kennt, das ein Auslösen jetzt erzeugen würde. Ich selbst bin kein erfahrener Fotograf; ich muss Belichtungsreihen machen.

ABER: Darüber hinaus weiss er, ob und inwieweit seine anderen, nicht-fotografierbaren Sinneswahrnehmungen mit in den Bildausschnitt eingehen, also etwa der Geruch der schon abgefallenen, überreifen Früchte, das Geräusch der umher fliegenden Bienen und Wespen, die Wärme der Sonne. Er wird also etwa sagen können, dass sein Bildausschnitt "400mm Brennweite, ein Apfel im Schatten" diese anderen, aber wesentlichen Sinneseindrücke nicht bis zum Betrachter transportieren wird: durch die verwendete Brennweite wird der Apfel flach erscheinen, und eben nicht rund-prall-saftig-reif, und durch den Schatten des Bildes wird auch der Betrachter nicht erwärmt. Er wird folglich Objektiv und Standpunkt wechseln, um dann einen Ausschnitt zu bestimmen, der das Wesentliche besser zur Geltung bringt.

Abbildungsgrösse

Eng verbunden mit der Wahl des "richtigen Ausschnitts" ist die Frage der Abbildungsgrösse. In unserem Beispiel hatten wir des Farbkontrastes wegen Äpfel, Blätter, Baum und Himmel als "das Wesentliche" gesetzt. So entfallen alle Totalansichten des Baumes als "unfotografierbar", weil hier die Äpfel im Verhältnis zum Ganzen in jedem Falle zu kurz kommen. Überhaupt müssen wir dichter an den (oder die) Äpfel, weil sie interessanter sind als Baum und Blätter, und der strukturlose Himmel sowieso. Grundsätzlich gilt also schon "Geh dichter dran, lass mehr weg". Jedoch kann das Foto eines spielenden Kindes eine "lirum-larum-Löffelstiel"-Aufnahme sein, wie wir sie ähnlich schon tausend mal gesehen haben. Solange sie den total vermüllten Hinterhof nicht zeigt; wenn sie verschweigt, dass das Licht nur ein Balken in der Düsternis ist.

Die Abbildungsgrösse beeinflusst den Informationsinhalt: Kleiner Abbildungsmassstab integriert Umgebung ins Bild, grosser Abbildungsmassstab entspricht einer Konzentration aufs Motiv und bewirkt eine Individualisierung. Gleichzeitig ist es eine Abstraktion, da das Motiv zusehends von der Umgebung unabhängig dargestellt wird. Grosser Abbildungsmassstab steigert den Detailreichtum und die Schärfewiedergabe. Die Abbildungsgrösse hängt nun sehr eng zusammen mit der Wahl des Objektivs, genauer: mit der Wahl der Brennweite. Ein grosser Abbildungsmassstab führt, je nach Brennweite, von der Perspektive her zu sehr unterschiedlichen Aussagen. Ich vertiefe das hier jedoch nicht, sondern verweise nur auf den kompetenten Artikel von Andreas Hurni.

Vom rechten Ausschnitt

Le Pecheur. Bild: Andreas Hurni

Vor einigen Jahren veranlasste mich das Bild "Le Pecheur" dazu, über die Rechtwinkligkeit in der Fotografie nachzudenken. Denn traditionell ist die Fotografie rechtwinklig organisiert: Wenn wir in einer Ausstellung ein Bild bewundern, wird es in einem rechtwinkligen Rahmen präsentiert. Der Rahmen ist natürlich gerade, also parallel zum Fussboden bzw. parallel zum (unsichtbaren) Horizont aufgehängt. Das Bild ist selbst natürlich rechtwinklig, und der Ausschnitt des Passepartouts ist folglich ebenfalls rechtwinklig. Und die Kanten des Ausschnitts sind parallel zu den Kanten des Rahmens, also wieder parallel zum (unsichtbaren) Horizont.

An den Negativ-Formaten können wir Nicht-Holga-Fotografen kaum etwas ändern; von daher wird das fotografische Abbild des von uns gewählten Ausschnitts stets rechteckig sein.

Jedoch! Es bleibt die Frage, ob wir den abzubildenden Ausschnitt stets so legen müssen, dass der Horizont (oder eines "Ersatzwertes" des Horizonts, eine so genannte Dominante) parallel zum unteren Bildrand liegt? Diese Auswahl des Ausschnitts entspricht unseren Sehgewohnheiten, gewiss. All diese Sucher mit Gitternetz braucht es ja nur, damit der Fotograf diese Erwartung des Publikums einfacher bedienen kann.

Aber ich frage! Ich frage, ob es eine Europäische Norm gibt, in der festgeschrieben ist, dass der Horizont zwar mal weiter oben, mal weiter unten liegen kann, aber immer parallel zum unteren Bildrand liegen muss? Und wenn eine solche Norm tatsächlich gibt – und wer in Europa kann das schon mit Gewissheit ausschliessen – wäre es dann nicht höchste Zeit für ein wenig bürgerlichen Ungehorsam? An anderer Stelle (Der Sprung von der Brücke) habe ich beschrieben, warum ich all dieses Gerede von "Regeln sind zum Brechen da" für Unsinn halte. Die "Regeln" zur Platzierung des Horizonts machen hierbei keine Ausnahme: Andreas Feininger beschreibt auf den Seiten 144 bis 149 seines Buches Die hohe Schule der Fotografie verschiedene Arten von Horizonten und die jeweilige Wirkung auf den Betrachter:

Ein gradliniger Horizont symbolisiert...
Ein schräger Horizont erzeugt das Gefühl...
Ein wellenförmiger oder gezackter Horizont wirkt...

Aber Gewohnheiten, insbesondere Seh- und Denk-Gewohnheiten aufzubrechen halte ich für eine gute Sache. Denn – um auf die fotografische Kette zurückzukommen - als Fotograf sind wir ja auch Betrachter, und wenn eine Seh-Gewohnheit erst einmal als Gestaltungsmittel total verinnerlicht wurde, wird es dem Fotografen schwer, damit zu brechen. Ich beziehe mich da auf ein Zitat von Harald Mante, das Andreas in seiner Bildgestaltung anführt: Das Wissen um die Gestaltungsmittel sollte total verinnerlicht sein und bei der praktischen Arbeit aus dem Unterbewusstsein, also sozusagen "aus dem Bauch heraus" Einfluss nehmen. Probieren sie es mal: Es könnte sich als schwieriger erweisen, als sie sich das auf Anhieb so vorstellen.

Bild: Michael Albat

Das nebenstehende Bild zeigt die Dampfwolke des Kernkraftwerks Leibstadt. Kräftiger Westwind treibt sie vergleichsweise flach über den Aufnahme-Standpunkt. Für mein Experiment, den Ausschnitt so zu wählen, dass der Horizonts brutal untergeordnet ist, musste diese besondere Wetterlage abgewartet werden, denn bei tiefer Bewölkung oder bei nur mässigem Wind bildet die Wolke eine Säule, liegt also mehr oder weniger in einem rechten Winkel zum Horizont. Das zuerst gesetzte Ziel erwies sich aber als in dieser Form unerreichbar: die jahrzehntelange geübte Praxis war zu prägend. Erst das Ziel "Den Ausschnitt so, dass möglichst viel Dampf aufs Negativ kommt" liess mich meine Blockade überwinden.

Wie alle Mittel der Fotografie eignet sich auch dieses gewiss nicht immer und für alle Motive – Wolken, so überlegte ich damals, könnten sich als "dimensionslose Grössen" noch am ehesten eignen -, und man sollte es auch nicht nur um des Effektes willen nutzen. Aber ab und zu kann man sich ja doch die Bezeichnung als schräger Vogel mal verdienen.

Nicht nur für Einsteiger...

Andererseits gibt es auch Überraschungsmotive, an denen die meisten vorbeigehen, sich aber dann, wenn sie sie in Bildform sehen, (etwa in einer Ausstellung oder illustrierten Zeitschrift - natürlich von jemand anderem aufgenommen), ärgerlich und neiderfüllt fragen: "Warum ist mir das bloss nicht aufgefallen? Wie konnte ich das übersehen, wo hatte ich meine Augen?" Zu typischen Beispielen dieser Art von Motiven gehören Grossaufnahmen gewöhnlicher Objekte - eine verwitterte Tür, eine Spiegelung in gekräuseltem Wasser, eine Wand, von der die Farbe abbröckelt, ein paar hohe, schlanke Gräser, gegen den Himmel gesehen - Motive mit wenigen, aber kräftigen Farben und wenigen, aber klaren, kräftigen Formen.

Andreas Feininger, Richtig sehen - besser fotografieren, 1973

Na ja, ich glaube ja schon, dass sich Andreas F. hier etwas naiver stellt als er ist. Die typische Reaktion wird wohl - nix von wegen ärgerlich und neiderfüllt - eher lauten "Habbich schon tausendmal gesehen... übersehen - wieso sollte das interessant sein - wenn's interessant wäre, dann hätte ich es auch gesehen." Aber sei's drum - das Publikum soll uns an dieser Stelle noch nicht interessieren, sondern unsere Arbeit.

Wissen sie, was KISS heisst? "Keep It Simple, Stupid" oder freundlicher "Keep It Simple and Stupid". Auf Deutsch: "Halt's einfach; kompliziert wird's von alleine".

Viele Fotografen scheitern früh - zu früh! -, weil sie sich zu viel auf einmal vornehmen. Sie beginnen mit Portrait oder gar Akt, ohne dabei zu bedenken, dass dabei praktisch alle der von Feininger genannten Punkte - "Leben" allen anderen voraus - in das Bild integriert werden müssen - wenn es "gut" sein soll. Ein Beispiel gefällig? Elise lächelt. Sie lächelt ihm zu mit den Augen, Mut machend, ich verlass Dich nicht. Sie hat, wie er früher sagte, alle Lichter angesteckt in den Augen, der ganze Weihnachtsbaum strahlt.

Ja, in dem Moment würden wir wohl gern auslösen! Aber wie Elise dazu bringen? Ich selbst habe es nur einmal geschafft - als ich sagte "Der Film ist alle".

Was aber dabei herauskommt, ist dann leider allzu oft ein Bild, das zwar "die Oberfläche der Form" wahrt, aber eben doch ungeschickt und unzulänglich wirkt. Nicht zuletzt auf die Abgebildete. Wenn es nicht gerade ein Profi-Modell ist, wird sie vermutlich zum Termin des nächsten Shootings gerade etwas vor haben.

Bild: Michael Albat

Ich weiss, wovon ich rede: Als ich 1977 mit der Fotografie anfing, war mein Thema - neben meiner damalige Freundin - "Möwen im Flug". Nun, ich war am Wochenende stets beschäftigt und habe beim Schütteln der Filmdose viele Muckis im rechten Arm entwickelt. Auch die Archivierung war kostengünstig, da nur eines von 100 Bildern aufbewahrenswert war: Zu damaliger Zeit war an Autofokus mit Schärfepriorität noch nicht zu denken.

Also, seinen sie klüger als ich es war: Suchen sie sich ein Motiv, das nicht weglaufen kann. Wenn schon Natur, dann "unbeseelte Natur".

Noch ein Ratschlag an den Einsteiger: Bearbeiten sie "Ihr Thema" Schwarz-Weiss. Auch dann, wenn es bedeutet, dass sie Ihre Filme selber entwickeln müssen. (Das ist nicht schwer, und es lassen sich schnell Erfolge erzielen.) Farbgestaltung gehört zu den schwierigsten Gebieten der Bildgestaltung überhaupt, und damit sollte man nun nicht gerade anfangen.

Wenn sie dann in die Farbgestaltung einsteigen, verwenden sie Dia-Film. Farbnegative sind aufgrund der Orange-Maske sehr schwer zu beurteilen, und was sie als Abzug bekommen, ist maschinell gefiltert. Und das bedeutet, dass sie aus Fehlern nicht lernen können.

Auch bei der Farbgestaltung sollten sie einfach anfangen: Immer Besser Monochrom. "Die Welt ist bunt!", ruft man mir zu. Eben. Eben deshalb werden bunte Bilder als Teil der Welt wahrgenommen, und die meisten Teile der Welt sind belanglos. Monochrome Ausschnitte hingegen sind daher etwas Besonderes, und Besonderes ist interessanter.

Themenvorschläge

Falls sie nicht im weiteren Sinne Studio-Fotograf sind (Modelleisenbahn etwa rechnet auch darunter): Andreas Feininger hat immer wieder im Hafen von New York gearbeitet, Alfred Stieglitz hat immer wieder Wolken fotografiert, vorzugsweise auf spiegelnden Oberflächen. Gewässer empfinde ich persönlich immer interessant. Die Bechers fotografieren Fachwerk- und Industrie-Gebäude. Vierzig Jahre lang! Auf fast allen Kontinenten! Also - wenn das kein Langzeitthema ist. Der Schauspieler Heinz Schubert fotografierte Schaufenster, vorzugsweise Ensembles von Schaufensterpuppen. Der Sonntag bietet allgemein viel in Richtung Architektur, insbesondere sind die Einkaufszentren dann leer. Es kann auch lohnend sein, den Blick ab und zu gen Himmel zu richten. Leuchtreklamen, Peitschenlampen und Verkehrszeichen können - gerade bei gut strukturiertem Himmel - schöne Aufnahmen ermöglichen. August Sander hatte auch ein Langzeitthema, an dem er - wie im Buch Photographie des 20. Jahrhunderts zu lesen - von etwa 1910 bis 1950 gearbeitet hat: Er wollte deutsche Menschen fotografieren, und zwar zu jeweils einem Stand einen "Archetypus", einen besonders charakteristischen und charakterisierenden Vertreter seines Standes. Ich selbst fotografiere immer wieder Köcherbäume bei der Blutkuppe in Namibia - vielleicht nichts für den Sonntagnachmittag.

Bild: Michael Albat

Ein anderes meiner Langzeitthemen ist ein Schiff - die Patmos Senator. Sie ist 213m lang; rechne ich die aussenliegenden Treppen (Niedergänge sagt der Seemann) hinzu, kommen etwa 500m zusammen. Ich war jetzt das vierte Mal für einen Monat dabei, und ich habe auch diesmal mühelos 54 Schwarz-Weiss- und 30 Dia-Filme belichtet.

Anregend finde ich auch immer wieder Schatten und Streiflicht. Das Problem ist nur, dass man ein schönes Motiv immer zur falschen Zeit entdeckt: Der Schatten ist schon zu weit, oder er ist noch nicht weit genug. Davon sollte man sich nun nicht abschrecken lassen, sondern sich ein Fundus an möglichen Motiven für den späteren Gebrauch zusammenstellen. Da Schatten und Streiflicht morgens oder abends besonders ausgeprägt sind, sollte man sich dann gleich überlegen, wo die Sonne auf- und untergeht. (Gabor Kis fotografiert gern Netze im Nordsee-Watt. Der muss bei der Planung auch noch den Flut- und Mond-Kalender zu Rate ziehen...)

Ich bin noch immer nach der Suche nach "Nebel-Motiven". Auch "Regen-Bilder" würde ich gern haben- allein, bei Regen kommt bei mir keine Lust auf.