3. Materie und Material

Autor: Michael Albat

Wie jeder andere Künstler und Handwerker braucht der Fotograf zu seiner Arbeit bestimmte Werkzeuge und Materialien. Art und Preis seiner Ausrüstung hängen allerdings weitgehend von seinen Zielen ab. Was will er fotografieren, wie viel Geld kann er ausgeben, wie viel Zeit und Arbeitseinsatz ist ihm die Fotografie wert? [...] Anfänger (aber auch erfahrene Fotografen, die es eigentlich besser wissen sollten), machen oft den Fehler, dass sie ihre Kamera, Objektive usw. in erster Linie aus Gründen des persönlichen Prestiges oder weil sie sehr bekannt sind wählen oder dass sie die teuerste Kamera und das lichtstärkste Objektiv, das sie sich leisten können, kaufen oder einen Fotoapparat, der durch einen berühmten Fotografen bekannt wurde, ohne zu beachten, ob ihr Kauf ihrer Persönlichkeit und dem Gebiet, das sie bearbeiten wollen, entspricht. Das ist ein sicherer Weg zum Misserfolg.

Um so etwas von Anfang an zu vermeiden, hört man besser auf jemanden, der während einer Lebenszeit als Fotograf aus vielen Fehlern schliesslich gelernt hat, dass der einzige Weg um die richtige Art von Ausrüstung zu erwerben, darin besteht, sie auf Grund folgender zwei Eigenschaften auszuwählen: Eignung und Einfachheit.

Eignung: Oft werde ich gefragt: "Was ist die beste Kamera?", eine Frage, die genauso sinnlos ist wie die Frage "Was ist das beste Auto?" Ist ein offener Wagen "besser" als ein Lieferwagen, ein Kabrio "besser" als ein Jeep? Was hilft die Limousine einem Menschen, der den Platz braucht, den ein Lieferwagen bietet? Oder nützt ein Wagen mit Vierradantrieb dem etwas, der nur auf Strassen fährt? Sind Orangen besser als Äpfel oder Zigaretten besser als Zigarren? Nein, das einzige Kennzeichen, ob eine Kamera oder ein Objektiv gut ist oder nicht, ist die Eignung: Sind sie geeignet für ihren Gebrauch, für die Arbeiten, die sie damit ausführen wollen? [...] Einfachheit: Meine zwanzigjährige Tätigkeit als Verlagsfotograf für Life lehrte mich, meine Ausrüstung so einfach wie möglich zu halten. Je einfacher eine Ausrüstung ist, um so schneller ist sie zur Aufnahme bereit. Um so weniger Stücke man bei sich hat, um so weniger Ärger hat man damit, vor allem auf Reisen.

Andreas Feininger, Feiningers grosse Fotolehre, 1979, S.27ff

Um es gleich vorweg zu sagen: Um Technik, um den Aufbau einer Fotoausrüstung soll es in diesem Abschnitt nicht gehen, obwohl ich zu dem Thema eine etwas andere Herangehensweise als Andreas anraten würde. Nein, hier möchte ich einige Gedanken entwickeln über das, was man mit der Technik anstellen kann, über die fotografischen Tätigkeitsgebiete, die wir damit beackern können.

Im "Geleit-Zitat" zum vorigen Abschnitt legte Feininger dar, welche Aspekte der Realität verloren gehen, wenn wir auf den Auslöser unserer Kamera drücken. Es besteht nun aber kein Grund, sich achselzuckend zurückzulehnen und uns unter Berufung auf einen berühmten Fotografen damit zufrieden zu geben, dass es in der "Natur der Sache", hier der "Natur der Fotografie" läge, dass unsere Fotografien "unvollkommen" erscheinen, enttäuschend, unwirksam und platt sind.

Überhaupt erscheint es mir falsch, die von Feininger aufgezählten Tatsachen als "Grenzen" zu betrachten: das sind sie nicht, wenigstens dann nicht, wenn wir den Irrglauben aufgeben, das Wichtigste und eigentlich Bedeutende an einem Bild sei die Abbildung der Realität. Oder auch nur: einer Realität. Wenn ich da etwa in Bausch und Bogen an die Studio-Fotografie denke - von Stilleben über Portrait zu Akt - in der eine Realität in stundenlanger Arbeit erst geschaffen wird, vom Setzen des Lichtes bis hin zum Arrangieren des Hintergrundes, um dann in einer Sechzigstel Sekunde abgebildet zu werden.

Es ist nun einmal nicht möglich, "die Welt" oder "die Realität" mit Hilfe der Fotografie einzufangen oder auch nur vollständig zu beschreiben. Wer - als Fotograf - versucht, "die Realität" abzubilden oder - als Betrachter - erwartet, "die Realität" abgebildet zu sehen, wird notwendigerweise eine Enttäuschung erleben. Oder vielmehr: wir wollen es hoffen. Denn: Eine Ent-Täuschung bedeutet dem Wortsinne nach ja die Befreiung von einer Täuschung, und man sollte ja annehmen, dass dies etwas Anzustrebendes ist. In der Mehrzahl der Fälle wird man es vorziehen, der Täuschung weiterhin verhaftet bleiben...

Denn wenn es in der Fotografie überhaupt Grenzen gibt, dann sind dies nicht "Grenzen des Materials" oder gar "Grenzen der Fotografie", sondern die Grenzen der Individuen (Fotografen, Redaktoren - und: Betrachter), die sich auf dem Gebiet der Fotografie bewegen. Und: Jeder kann sich nur innerhalb der Grenzen bewegen, die seine Persönlichkeit ihm steckt, sagt Gabor Kis. Nun ist Grenze nicht eigentlich ein Begriff, mit dem ich gerne arbeite, schon weil er einen Verlauf andeutet, wo doch eher ein Grenz-Pfosten gemeint ist, aber der Begriff ist immerhin kürzer als charakterisierendes Merkmal.

Kunst, so sagt der Grosse Brockhaus, ist die Gestaltung eines seelisch-geistigen Gehalts durch eine eigenwertige Form nach bestimmten Gesetzen. Die Gestaltungsmittel und die Gesetze ihrer Anwendung sind für jede Kunst verschieden. (Zitiert nach Feininger The Creative Photographer S. 78)

Ihre eigenwertige Form, wenigstens den Beginn der Beschreibung der "fotografischen Mittel" gewinnt die Bildgestaltung in der Fotografie aus der Untersuchung, aus dem Abtasten und Ausfüllen der so genannten "Grenzen":

Die eigenwertige Form ist aber noch nicht alles. "Kunst definiert sich nicht materiell!" donnerte mir einst ein sehr guter Freund entgegen. Oho! Da bin ich mir aber gar nicht sicher, dass das stimmt. Ich bin mir sogar ganz sicher, dass das nicht stimmt! Kunst definiert sich (auch) an dem klugen Einbezug der Eigenschaften - und eben nicht: der Grenzen- des Materials, der "Technik", und an der daraus folgenden Beschränkung der Sujets. Das Weiss einer SW-Photographie ist das Weiss des Photo-Papiers, also des Träger-Materials, und das Weiss eines SW-Negativs ist das Weiss des Films, also ebenfalls das Weiss des Träger-Materials!

Natürlich ist die Aussenmauer eines Hauses auch eine "Grenze". Das muss sie ja auch sein, weil es sonst in unser Bett regnet, und das schätzen nur wenige. Über diese Art Grenze verfügten aber schon die aus Lehm und Weidenruten gefertigten Hütten unserer steinzeitlicher Vorfahren. Mit neuen Materialien aber erweiterten sich auch die Möglichkeiten: Fachwerkhäuser können bereits Stockwerke haben, aus Backstein kann man Kathedralen bauen, aus Stahl und Beton Wolkenkratzer. Architektur - und Feininger war ja Architekt - besteht eben nicht darin, mit irgend einem Material ein Stück Raum luftdicht abzuschliessen, sondern Architektur besteht wesentlich auch in der kreativen Nutzung der zur Verfügung stehenden Materialien zur Gestaltung der Wände - man stelle sich eine Innenarchitektur vor, die eine Wand als Grenze betrachtet und im Rohzustand belässt!

Nebenbemerkung: Der Begriff "die Architektur" hat mit dem Begriff "die Fotografie" gemein, dass der Begriff als vorgeschobene Kulisse zur Vernebelung von Verantwortlichkeit gebraucht wird. Nicht "die Architektur" ist schuld, wohl nicht einmal "die Architekten", sondern viel eher "die Bauherren" und "die Auftragsvergeber".

Erinnern wir uns etwa an Maria Sibylla Merian (1647 - 1717), die mit unserm Schultz einiges gemein hatte. Gut, sie war eine Frau, und sie wurde nicht als Propagandistin nach Afrika entsandt, sondern sie fuhr als Wissenschaftlerin auf eigene Kosten nach Surinam. Ihr bedeutendstes Werk: "Metamorphosis Insectorum Surinamensium" mit farbenprächtigen Darstellungen von Pflanzen und Insekten fertigte sie als Aquarell.

Wissen.de sagt nun zu Aquarellmalerei:

Malerei mit wasserlöslichen Lasurfarben, Aquarellfarben, die mit Pinsel oder Schwämmchen dünn auf den Grund (meist Papier) aufgetragen werden und ihn durchscheinen lassen.
... den Grund durchscheinen lassen...
Das ist es, worauf ich hinaus will, dass verstehe ich unter Einbezug der "Eigenschaften des Materials". Natürlich hätte sie auch Ölfarben verwenden können. Da sie aber ihre gesamte Ausrüstung tragen musste, spricht einiges für ihre Entscheidung.

Will man jedoch ein grosses, repräsentatives Gemälde der Herrscherfamilie, in kräftigen Farben und gut beleuchtet ausgestellt, so wird man eher zu Ölfarbe auf Leinwand greifen.
Die Wahl des Sujets und die "beste Wahl" der Technik bedingen einander. (Ein weiterer Aspekt wird später noch zu bedenken sein: Die "fotografische Arbeitsweise", das Herangehen an das Motiv, das Herantasten an das Wesentliche.)

Bedenken wir dazu einmal die "Rolle der Technik" im Wandel der Zeit.

Vor den ehrfürchtig staunenden Bewohnern Bethaniens, die gebannt standen, verschwand er unter einem schwarzen Tuch, mit dem er sich und den Apparat abdeckte. Wenig später tauchte er, jedes Mal mit glücklichem Lächeln, wieder auf. Er hatte die Erstarrten auf eine Platte gebannt. Diese Platten entwickelte er nachts in seinem mitgeführten Laboratorium.[...] Schultz liess den gewichtigen Apparat von drei auserwählten Männern durch das Land tragen, durch das er mit schwermütigem Blick ritt, immer wieder plötzlich auf eine Stelle zeigend, wo der Apparat aufgestellt werden sollte.

Uwe Timm, Morenga

Als Schultz sein Gerät für Afrika zusammenstellte, hatte er damals ja kaum mehr Auswahl als wir heute - so gewichtig ist der Unterschied zwischen Canon und Nikon ja nicht: Eine Glasplattenkamera musste es ja schon deshalb sein, weil es andere nicht gab. Wenn es keine Alternative gibt, fällt die Wahl leicht. (Wahrscheinlich sollten wir tatsächlich noch nicht von einer Kamera, sondern von einem Apparat sprechen.)
Wie wir aus dem Text erfahren, war Schultz schon von seinen Werkzeugen her ausgeschlossen von heute selbstverständlichen fotografischen Tätigkeitsgebieten wie etwa Wildlife im Allgemeinen und Straussenfotografie im Besonderen: Eine 250stel Sekunde brachte weder sein Verschluss zustande, noch hätte das zur Belichtung der Glasplatte gereicht.
Nun war Schultz natürlich trotzdem ein Pionier, der seinen gewichtigen Apparat aus dem Atelier holte und der Fotografie im Freien, - out-door, nicht wahr - und dann auch noch auf einem anderen Kontinent, Motive erschloss, die vor dieser Zeit von "der Malerei" bearbeitet worden wären.
Nun glaube ich nicht, dass Schultz vorhatte, in den Sujets der Malerei zu wildern. Es ist nur ganz einfach so, dass er mit dem ihm zur Verfügung stehenden Werkzeug nur solche Gebiete beackern konnte, die ihm die Zeit zum Belichten einer Glasplatte liessen. Was, unbeabsichtigt, mit den Sujets zusammenfiel, die "der Malerei" die Zeit liessen, eine Zeichnung anfertigen.

Wenn man von der Konkurrenz zwischen Malerei und Fotografie spricht, so meint man wohl die Konkurrenz um den "Markt der Motive"? Und Markt meint Money? Denn einem Hobbymaler könnte es eigentlich ja völlig gleichgültig sein, womit sich sein Nachbar, der Hobbyfotograf, die Zeit vertreibt. Es interessiert mich ja auch nicht, was Digitalfotografen so alles durch ihre Rechner jagen.

Die "Technik" schritt voran. Aber: Die Technik bediente den Markt. Es ist ganz amüsant, den heutigen Technik-Freaks entgegenzuhalten, dass vor dem Ersten Weltkrieg das Mass der Dinge bei der Konstruktion der Optik und bei der Rezeptur der Emulsionen nun aber nicht etwa "Schärfe", also etwa Abbildungsgenauigkeit oder Brillanz waren, sondern ganz im Gegenteil wurde ein Weichzeichner-Effekt erstrebt: Die Pickel sollten gerade nicht genau erkennbar sein. Wenn es allzu genau wurde, musste der Fotograf retuschieren, hatte also Arbeit, die er sich gerne erspart hätte. Und warum? Weil die Photographie sonst nicht ausgesehen hätte wie gemalt. Die Malerei war insofern noch das "Mass der Dinge", als dass sich "die Fotografie" definierte über den Unterschied zur Malerei. In erster Linie wohl als schneller, billiger und einfacher als die Malerei. Und in der Tat: Konnte sich zuvor nur der Hochadel einen Hofmaler zum Pinseln der Familienportraits leisten, so wurde es jetzt auch den berühmten "breiten Volksschichten" möglich, zu bedeutenden Lebenseinschnitten wie etwa dem Einrücken zum Militär oder zur Hochzeit ein Bild anfertigen zu lassen. Auch Gross-Serien von Abzügen wurden nun möglich, den Kaiser konnte sich nun ein jeder in die Wohnstube hängen, oder auch Pin-ups ins Schlafzimmer.

Aber die Fotografie war, der langen Belichtungszeiten wegen, immer noch Atelier-Fotografie. Dies änderte sich erst mit der Leica. Jetzt aber nicht wegen der Technik: Vom technischen Standpunkt aus war die Leica schon bei ihrer Einführung ein Rückschritt: Ein 6x6-Negativ trägt ungefähr viermal soviel Information wie ein KB-Negativ; eine 10fache Vergrösserung liefert einen Abzug der Grösse 60x60cm, bei KB aber nur 24x36cm, und alle Fortschritte des vergangenen Jahrhundert bei der Konstruktion der Optik und bei den Film-Emulsionen haben an diesem Qualitätsvorsprung "Faktor n" nichts ändern können. Und trotzdem hat erst die Leica der Photographie die eigenwertige Form verschafft, ohne die sie weiter "nur" ein Handwerk geblieben wäre.

Feininger: "Ich denke ferner an den Wert von Winkelaufnahmen und stürzenden Linien zum Ausdruck von beherrschender Höhe, an die Verdrängung des Blitzlichtes durch Arbeit bei vorhandenem Licht, die mit den unbeobachteten Fotos von Erich Salomon eingeleitet wurde, an die Verwendung der fotografisch genauen Wiedergabe der Oberfläche und der Einzelheiten, deren Vorgänger Edward Weston war, und ich denke an die bewusste Verwendung einer genau berechneten Unschärfe und Verschwommenheit als Mittel, abstrakte Empfindungen, Bewegung und Handlung anzudeuten, was die Dokumentarfotografen getan hatten, die als erste die Möglichkeiten der Kleinbildkamera voll ausschöpften."

Der arme Feininger! Wie rückständig er doch ist! Unschärfe und Verschwommenheit ist doch kein wirksames Gestaltungsmittel, sondern ein technischer Fehler! Das wird Ihnen jeder Digital-Fotograf bestätigen und durch die Verlautbarungen der Kamera-Hersteller schwarz auf weiss belegen können!

Mein Stichwort heisst ausschöpfen: Durch die neue Technik der Leica - und alles, was unter dieser Flagge segelt - erschlossen sich auch ganz neue Tätigkeitsfelder. Mindestens einmal: Hinaus aus dem Studio, hinein in die Welt. Erst ausserhalb des Studios erhielt die Fotografie ihre eigenen Grenzen, und damit auch erst ihre eigene Würde.

Dorothy Sayers Fotograf, der Butler Bunter des Lord Peter Wimsey, arbeitete anfangs der zwanziger Jahre bei der fotografischen Dokumentation der Tatorte noch mit Glasplatten, nahm aber schon alle Fortschritte der Optik und der Chemie begierig auf - die nun erst in die Richtung "Schärfe" - als Teil fürs Ganze - liefen. Und das bis heute tun.

Ich weiss nun nicht, mit welchen Kameras und Materialien die grossen Amerikaner gearbeitet haben, die uns im Auftrage der Farm Security Administration ein Bild der Great Depression im Amerika der dreissiger Jahre überliefert haben. (Das dicke Buch Photographie des Zwanzigsten Jahrhunderts spricht nur von "Silber-Gelatine", was ja Raum für allerlei Deutungen lässt.) Letztlich ist das auch unwichtig. Für uns heutige ist von Belang, dass sie eine Tradition, eine grundsätzlich neue Verbindung von Sujets und Formensprache schafften, eine Tradition, die uns prägt. Natürlich kann man Leuten wie Adams oder Weston - oder wer sonst noch Teil der Gruppe f64 war - die fast einseitige Fixierung auf die Technik vorwerfen. Aber ihr bleibendes Verdienst bleibt doch, dass sie erstmalig etwas Kritisierbares schafften, eine Tradition, die für uns insofern richtungsweisend bleibt, als dass wir sie überwinden wollen. Die Rebellion gegen den Vater ist Bestandteil des Erwachsenwerdens.