5. Der richtige Moment...

...und das richtige Licht oder wann etwas fotografieren

Autor: Michael Albat

... (Schultz sagte: Licht ist das A und O dieser Kunst, und bevorzugte die Berufsbezeichnung: Ablichter), bis ihm schliesslich jene einzigartige Aufnahme glückte, die einen Halbmenschen in der abendlichen Dämmerung zeigte und – unaufdringlich – etwas von jener fernen Trauer in sich trägt, die Schultz nicht nur in den Gesichtern, sondern auch in der Landschaft entdeckt hatte. Spuren von Verfall und Untergang lange vor den nasskalten tödlichen Nächten auf der Haifischinsel.

Uwe Timm, Morenga

Im Jahre 1952, knapp 50 Jahre nach der Veröffentlichung der Speziellen Relativitätstheorie, veröffentlichte der Fotograf Henri Cartier-Bresson seinen Bildband "Images à la sauvette" (Bilder im Vorübergehen), und ihn ihm seinen berühmtem Aufsatz "L'Instant décisif", zu Deutsch "Der entscheidende Augenblick". Diese glückliche Wortschöpfung hat unmittelbar Eingang gefunden in den Wortschatz der Fotografie. Leider verhindert die Eingängigkeit dieses Begriffs, dass über die Folgen der sich dahinter verbergenden Idee nachgedacht wird.

Wenn wir nämlich erkennen, dass die Darstellung des Entscheidenden Augenblicks die Qualität eines Bildes ausmacht, so folgt daraus, dass das ganze Geschwätz über "Abbildung der Realität" Mumpitz ist: "Die Realität" hat Schultz auf den Aufnahmen abgebildet, die er letztlich ausschied zugunsten der "einen Realität", die das zeigte, worauf es ihm ankam. Wobei davon auszugehen ist, dass die zuständigen Herren vom Präsidium der Kolonialgesellschaft ihm – in ihrer Eigenschaft als Redaktoren - durchaus beipflichteten – und das Bild gerade seiner Qualität wegen dem Betrachter nicht zeigen wollten: Gute Bilder sind gefährlich. (Im Kapitel Absicht und Sinn wird noch einiges dazu zu sagen sein.)

Wenn ich im Titel vom "richtigen Moment" rede, so meine ich schon auch den "entscheidenden Augenblick", darüber hinaus jedoch zusätzlich den Moment, in dem auch "alles andere", die ganze Ästhetik, insbesondere das Licht, richtig ist:  Grundsätzlich ist man geneigt, dem Entscheidenden Augenblicks Bedeutung nur zuzumessen bei der Fotografie der "beseelten Natur": Unmittelbar denken wir an "geschwindigkeits-bestimmte" fotografische Tätigkeitsfelder wie Streetlife, Reportage, Sport, Wildlife und Schnappschuss. (Henri Cartier Bresson erzielte seine grössten Erfolge auf den Gebieten Streetlife-Fotografie und Reportage.)

Angesichts eines besonders dramatischen oder erregenden Bildes hört man oft Ausrufe wie "Welches Glück hatte der Fotograf", und "Das muss doch wohl ein Zufallstreffer sein" Gelegentlich mag es eine Tatsache sein, dass der Fotograf ein solches Bild nur seinem Glück verdankt, aber meist ist es doch die wohlverdiente Belohnung für harte Arbeit.

Andreas Feininger, Feiningers grosse Fotolehre, 1979

Bei ein wenig Nachdenken erkennen wir aber, dass es auch bei Portrait (ja, und meinethalben auch Akt) in der Tat auf den richtigen Moment entscheidend ankommt. Tatsächlich kommt es auf jedem fotografischen Tätigkeitsgebiet auf den richtigen Moment an; nur ist dieser Moment in den unterschiedlichen Feldern unterschiedlich lang. Das Ziel der Studio-Fotografie besteht ja gerade darin, die Kontrolle über die Aufnahme-Situation so weit wie nur möglich zu vergrössern, um den richtigen Moment so weit auszudehnen wie nur möglich. Wenn sie einen Werkzeugkasten sauber ausgeleuchtet haben, können sie zum Mittagsessen gehen, und wenn sie zurückkommen, ist immer noch der richtige Moment. Lassen sie hingegen ein Modell in dieser Situation eine Stunde allein, so könnten sie Schwierigkeiten bekommen.

Mein "richtiger Moment" hat neben der zeitlichen nun auch noch eine räumliche Komponente: Seit Einstein wissen wir, dass es Zeit ohne Raum nicht gibt. Ich darf zitieren? "Die Perspektive beinhaltet die geometrischen Aspekte der Abbildung. Die Abbildungsart der Linearperspektive an sich, Grössenverhältnisse innerhalb des Bildes sowie deren Bezüge zu Aufnahmerichtung und Aufnahmestandort". Es kommt mir an dieser Stelle nun nicht auf den richtigen Einsatz der technischen Mittel an, also etwa auf den Unterschied zwischen "Mit Weitwinkel nah dran oder mit Tele weiter weg", oder den zweckdienlichen Einsatz der Schärfentiefe. Das alles trägt zwar entscheidend zum Bilderfolg bei, ist aber bei Andreas bereits kompetent besprochen. Worauf es mir ankommt:

Versuchen wir es einmal umgekehrt: Im letzten Kapitel haben wir über die Überladung von Bildern gesprochen, und dazu das Beispiel eines Apfelbaums im Sommer gewählt. (Wer dächte da nicht unmittelbar an Newton und seinen Apfel!) In dem Beispiel konnte die Zeit – auftretend etwa in Form einer Lichtänderung – vernachlässigt werden. Wir Fotografen sehen nun, dass für uns Raum, Zeit und Licht eine Einheit bilden.

Bevor ich nun allzu philosophisch werde: Eine gute Fotografie ist ein Destillat der Wirklichkeit von Raum - und von Zeit. Die Zeit spielt immer eine Rolle – wenn auch nicht immer die, die man ihr landläufig zuerkennt.

Nimm Dir Zeit - Komm später wieder

Ralph Graves, ein Reporter und späterer Herausgeber von Life, erinnerte sich 1984, wie er Feininger 1948 zwei Wochen lang für sein berühmtes Bild Brooklyn Bridge im Nebel begleitete. Graves hielt dies anfangs für ein leichtes, "denn immerhin konnte die Brücke ja nicht weglaufen [...] sie war berühmt für ihre Schönheit und ihren ästhetischen Reiz, und man musste zwangsläufig schöne Bilder von ihr machen." Die beiden Life–Mitarbeiter stiegen, mit 30kg Fotoausrüstung beladen, auf unzählige Häuserdächer, um die optimale Perspektive und Lichtbedingungen zu studieren. Graves schreibt: "ich schlug vor, vielleicht darauf zu verzichten, die gesamte Ausrüstung mit uns herumzuschleppen, solange wir nach einem Standort suchten. »Nein«, erklärte Feininger. Es könnte ja sein, dass wir genau die richtige Stelle zu genau der richtigen Tageszeit bei idealen Lichtverhältnissen, idealem Wetter und vielleicht sogar mit dem idealen, flussabwärts treibenden Boot finden würden; und dann müssten wir ausgerüstet sein"

Mit der gleichen Kompromisslosigkeit wartete Andreas Feininger 1940 etwa 8 Monate, bis er seine Bildidee realisieren konnte, den Finanzdistrikt in Downtown Manhattan bei Dunkelheit mit voll erleuchteten Hochhäusern zu fotografieren. "Nachtaufnahmen wie diesen können nur im Winter gemacht werden, da im Sommer der Dienstschluss vor Einbruch der Dunkelheit liegt" kommentierte er in einer späteren Buchveröffentlichung. (Beide Zitate: Angelika Beckmann in Feininger – Vater und Söhne, Ostfildern-Ruit 2001)

Tja Freunde, das meine ich mit dem "richtige Moment": Der richtige Moment ist dann, wenn das richtige Licht, die richtige "Umgebung" ist. Feininger wollte die Brooklyn Bridge bei Nebel fotografieren, also musste er warten - auf den richtigen Moment. Es sei übrigens verraten, dass Feininger die Brooklyn Bridge auch später noch fotografiert hat, und durchaus nicht nur bei Nebel!

Wenn wir uns länger mit einem Thema beschäftigen, einer Industrieruine etwa oder mit einer Landschaft, dann können wir es uns zunutze machen, dass es sommers anders aus sieht als winters, nach Regen anders als in strahlender Mittagssonne. Oder bei bedecktem Himmel mit seinem diffusen Licht.

Einige Punkte:

Die Farbe zum Bild

Das Medium des Fotografen ist das Licht. Abgesehen von groben Fehlern in der Aufnahmetechnik, ist das Licht wohl der wichtigste Einzelfaktor für die Ausdruckskraft eines Bildes. Seine Hauptfunktionen sind: 1. Bestimmt es die Belichtungszeit. 2. Im Wechselspiel mit dem Schatten ruft es die Illusion von Raum und Tiefe hervor. 3. Es verleiht der Aufnahme ihre Stimmung. Leider schenken viele Fotografen nur Punkt 1 ihre Aufmerksamkeit und lassen Punkt 2 und 3 unbeachtet. Das hat voraussehbare Folgen, denn Licht ist weit mehr als nur ein ablesbarer Wert auf dem Belichtungsmesser oder bestimmte Helligkeitsabstufungen nach dem "Zonensystem".

Andreas Feininger, Feiningers grosse Fotolehre, 1979, S.24

Der Grundsatz "Komm später wieder" liefert uns auch die Möglichkeit, auf die Farbe zu warten, die für eine Bildidee richtig ist. Wenn denn Farbe überhaupt für die Bildidee richtig ist! Normalerweise ist Farbe ja nur ein weiteres Hindernis auf dem Weg zum guten Bild, das den Fotografen in die missliche Lage versetzt, eine ganze Reihe von Filtern verschiedener Farben und Durchmesser mit sich zu schleppen.

Die "Farbe" ändert sich - in der Jahreszeit, aber auch in der Tages-Zeit. So ist "blauer Himmel" in unseren Breiten nur scheinbar blau, meist aber stahlgrau. Nur an eisigen Wintertagen haben wir die Chance, einen wirklich blauen Himmel in unser Bild zu integrieren. Grundsätzlich ist Farbe, oder besser Farbwiedergabe, immer problematisch. Was nämlich ist die "richtige" Farbe? Da gibt es die Antwort des Physikers, oder wohl besser des Oberlehrers für Physik, und sie lautet 5400 Grad Kelvin Lichttemperatur, also "Sonne pur". Für Dokumentarfotografie mag das ja noch angehen, aber für schöpferische Fotografie, die sich mit der lebendigen Wirklichkeit beschäftigt?

Ein Beispiel mag dies verdeutlichen:

Bild: Michael Albat

Dieses Bild entstand im namibischen Winter: Es war kalt, trocken und windig, was man vielleicht am Blau des Himmels, dem schrägen Licht, den Pastellfarben und den gezausten Federn erkennen kann.

Bild: Michael Albat

Dies ist nun auch eine Gabelracke, diesmal aufgenommen in der namibischen Regenzeit.
Es war heiss, schwül und windstill – kurzum: unangenehm. Als Fotograf, der sich noch sehr genau an die Entstehung des Bildes erinnert, ist man natürlich befangen, aber ich glaube, das matschige Blau des Himmels und die wenig leuchtenden Farben des Vogels vermitteln einiges von der Atmosphäre?

Ich weiss nun nicht, welches der beiden Bilder dichter an 5400 Grad Kelvin liegt, und es interessiert mich auch nicht: Jedes Bild zeigt eine Wirklichkeit, und das ist es, auf das es mir ankommt.

Die Frage nach dem "richtigem" Licht wird uns im Abschnitt Absicht und Sinn wieder begegnen. "Richtig" ist das Licht dann, wenn es die Absicht und den Sinn des Bildes unterstützt.