Es gibt verschiedene Stufen des Sehens: den flüchtigen Blick, das interessierte Betrachten, die wissbegierige Forschung, das Suchen nach Wissen und Einsicht. Sehen sie ein Objekt, das sie interessiert, begnügen sie sich nicht mit dem ersten Blick. Wenn ein Motiv wert ist, fotografiert zu werden, ist es auch wert, gut fotografiert zu werden. Mit anderen Worten, der erste Eindruck ist selten der beste. Studieren sie ihr Motiv aus verschiedenen Gesichtspunkten im buchstäblichen und übertragenen Sinne. Sehen sie es bewusst mit ihren Augen, aber auch mit dem inneren Auge des Geistes, suchen sie seine Bedeutung und sein Wesen zu erfassen. Stellen sie seine wichtigsten Eigenschaften fest, konzentriert, geklärt und verdichtet, zeigen sie mehr in Ihrem Bild, als was das flüchtige Auge in Wirklichkeit sah. Licht macht Ihnen das Objekt sichtbar und gibt Ihnen Ihre Chance; nun ist es an Ihnen, andere durch ihre Fotos zum "Sehen" anzuregen.
Andreas Feininger, Feiningers grosse Fotolehre, 1979, S.304
Gehen sie davon aus, dass jedes, aber auch wirklich jedes Motiv bereits fotografiert worden ist.
Bild: Michael Albat
Ich hatte einmal das Glück, auf einem stillgelegten Bahngelände eine Schiene mit dem Fabrikationskennzeichen "Krupp 1885 III" zu finden, und dachte jetzt endlich mal was Neues, nie Gesehenes gefunden zu haben. Eine Recherche im Internet belehrte mich eines Besseren: Es gibt ganze Homepages mit nichts als Bildern über Fabrikationskennzeichen von Schienen.
Insofern werden auch sie nicht damit rechnen können, jemals etwas fundamental Neues zu finden. Was sie aber können: An etwas Bekanntem einen neuen Aspekt aufzeigen. Noch vor einer neuen Beleuchtung ist dabei eine neue, eine ungewöhnliche Perspektive interessant. Ein Hund, "von oben herab" fotografiert, ist alltäglich. Aber einen Dackel in Untersicht! Oder: eine Giraffe aus Obersicht! Das hat nicht jeder! Oder auch: Eine Landschaftsaufnahme, aus Augenhöhe gemacht, von vorn bis hinten scharf – wie langweilig! Aber aus Bodensicht, im unscharfem Vordergrund feine Strukturen zeigend: gleich viel spannender!
Bei meinen ersten Reisen nach Namibia bin ich stundenlang durch den Etosha-National-Park gefahren, um Löwen (und andere Katzen) zu fotografieren. Mit genügend Zeit und Geduld finden man die auch. Auf späteren Reisen habe ich aber gelernt, meine Zeit auch anderes zu verwenden. Kleine Vögel, zum Beispiel. Warzenschweine. Schakale. Das kleine, scheinbar Unspektakuläre. Wie viele Leute habe ich verärgert, die, angelockt durch ein 500mm-Objektiv, langsam herangefahren sind und dann erst bemerkt haben, dass nicht Löwen und nicht Leoparden mein Motiv waren, sondern Erdmännchen oder Zebras oder sonst etwas dort Alltägliches. Oder gar: abgestorbene Baumstümpfe in der Abendsonne.