Aus einem Email:
Was mir noch nicht klar ist, wie mir das alles in der Fotografie weiter hilft. […]
Würde ich an visueller Agnosie leiden, würde ich nicht Menschen auf dem Trottoir gehen sehen, sondern Striche. Auf der Strasse würde ich nicht Autos und Busse sehen, sondern dicke und grosse Flecken. Aber das ist bei mir zum Glück nicht der Fall.
Um es direkt zu sagen: Ich weiss selbst nicht genau, wie das Wissen um die Gestaltung praktisch angewandt wird. Persönlich gestalte ich kaum je ein Bild indem ich Gestaltungswissen bewusst abrufe und abarbeite, ich habe diesbezüglich keine ausformulierte Checkliste. Trotzdem bin der Überzeugung, dass das Wissen um die Gestaltung mich beeinflusst.
Harals Mante sagt dazu:
Das Wissen um die Gestaltungsmittel sollte total verinnerlicht sein und bei der praktischen Arbeit aus dem Unterbewusstsein, also sozusagen «aus dem Bauch heraus» Einfluss nehmen.
Die Frage kann also auch lauten: Wie kommt das Wissen in den Bauch?
Ein paar Gedanken:
- Wenn wir einen einzelnen Aspekt der Gestaltung hervorheben und ihn bei Lichte betrachten, so mag er uns in der Tat sinnbefreit erscheinen. Innerhalb des Gefüges «Gestaltung» nimmt das Element jedoch eine Funktion war, gleichermassen wie Zahnräder alleine auch nicht viel bewirken und erst innerhalb eines Uhrwerkes ihren Sinn erhalten.
- Punkt und Linie sind daher auch nur zwei Elemente unter vielen, welche wir ordnen mit dem Ziel, einen Überblick zum Thema Gestaltung zu erhalten.
- Haben wir eine minimale Ordnung geschaffen, so beginnen wir damit zu spielen. Wir probieren aus, was innerhalb dieser errichteten Ordnung möglich ist. Wir sind jetzt also da angelangt, wo der abgeklärte Gestalter uns erklärt, Regeln seien zum Brechen da.
- Um mit der Gestaltung zu spielen müssen wir imstande sein, uns unser Bild zu denken, oft spricht man von Prävisualisierung.
Wir sollten also etwas vorhersehen: Vorerst ist zu erkennen, welche Motive sich für eine Aufgabe lohnen. Sobald wir das potentielle Motiv durch den Sucher betrachten beginnt die Gestaltung: Ich verwende dafür gerne den Begriff «das Bild aufräumen», Ordnung machen in der Bildfläche. Wir müssen also das im Motiv enthaltene potentielle Bild sehen. Dies ist durchaus ein aktiver Vorgang, auch wenn er nicht analytisch durchgeführt wird. Wir bewerten das Sucherbild, erkennen was gut ist und welche Möglichkeiten zur Optimierung bestehen. Wir gestalten Grössenverhältnisse, Einteilungen und Proportionen, Farbverhältnisse und Tonwerte. Aber auch: findet sich zuviel oder zuwenig im Bild, kann ich ein zusätzliches Element aus- oder einschliessen, anschneiden, überschneiden.
Karen Ostertag schreibt in ihrem Buch «Fotokomposition» von einem vermittelbaren Sehtraining:
Das Sehtraining selbst, ist einmal der Einstieg gefunden, ist ein Prozess, der lebenslänglich andauert. Er unterliegt einer unbemerkten Verselbständigung, so dass seine Entwicklung später beinahe unbeeinflussbar fortdauert.
Diese Verselbständigung durch Interesse, Übung und Experiment dürfte der Vorgang sein, welcher im Laufe der Zeit einen Teil des Gestaltungswissens in unserem Bauch respektive Unterbewusstsein verankert. Verankern wird sich was funktioniert, dies wird man immer wieder anwenden, aber auch was nicht erfolgsversprechend ist, dies wird man künftig meiden. Daraus entwickelt sich wohl zusehends auch ein eigener fotografischer Stil.
Noch ein paar Worte zum Überblick betreffend Bildgestaltung. Bildgestaltung kennt mehrere Baustellen:
- Auf der Ebene der Wahrnehmung gestalten wir das Bild so, dass es unserer Wahrnehmung entgegenkommt. Stichworte dazu ist all dies worauf Bildgestaltung oftmals gerne reduziert wird: Farbe, Grösse, Kontrast, Klarheit, Prägnanz. Dies ist die Kategorie worin auch Punkt und Linie zu finden ist.
- Auf der Ebene der Information übermitteln wir einen Inhalt.
- Und nicht selten möchten wir auch, dass der Betrachter von unserer Message ergriffen wird oder sie ihn zum Handeln verleitet (z.B. kauf mich!). Wir stochern gestalterisch also auch in den Emotionen des Betrachters herum.
So gesehen, Punkt und Linie bringen uns fotografisch noch nicht viel, unmittelbar und direkt anwenden tun wir sie vermutlich auch nicht, aber sie sind immerhin ein guter Anfang einer wünschenswerten Entwicklung.
Gruss
Andreas