10. Der Genius Loci

Autor: Michael Albat

... diesem sonderbaren Weissen, der mit seinem schwermütigem Barett langsam suchend durch den Ort ging und von niemandem etwas haben wollte und nichts forderte,...

Uwe Timm, Morenga

Mir scheint, es gehört zu den Verhängnissen unserer Zeit, dass die meisten Menschen nur an dem interessiert sind, was "leicht" ist. Der grundlegende Tenor aller Anzeigen, die sich an Leute wenden, die etwas selbst nach dem Motto "Do it yourself" machen wollen, lautet: "Es ist leicht! - Auch sie können malen... schreiben... grossartige Farbaufnahmen machen und eine Menge Geld damit verdienen... Alles, was sie tun müssen, ist, sich in unseren Fernlehrgang einzuschreiben... diese preisgünstige Ausrüstung kaufen... diese einfachen Anleitungen zu befolgen... ES IST LEICHT!"

Wenn sie von mir nur ein Rezept erwarten, wie sie leicht zu guten Resultaten kommen können, dann haben sie mit dem Kauf dieses Buches Ihr Geld verschwendet. Denn alles, was sie brauchen, ist schon nett in den einfachen Gebrauchsanweisungen zusammengefasst, die Ihrem neuen Fotoapparat, Belichtungsmesser und Film beiliegen, und zwar kostenlos. Wenn sie aber zu den Fotografen gehören, die noch an Qualität glauben, an ehrliche Arbeit, an sinnvolle Resultate, dann werden sie alle notwendige Führung auf den Seiten und in den Bildern finden. Mehr zu geben ist unmöglich - alles übrige liegt bei Ihnen. Dieses letzte Notwendige zum Erfolg, das schöpferische Gestalten, kann nicht gelehrt werden. Aus seiner Umwelt gewinnt der Fotograf Eindrücke, die er im Lichte seiner eigenen Erfahrungen, seiner Interessen und seiner Persönlichkeit auswertet. Unterscheidungsvermögen, Auswahl und Ablehnung gehen der Bildherstellung voraus. Ordnung, Klärung und technisches Geschick verwandeln sein Rohmaterial in eine Form, die durch Intensität des Sehens, suggestive Symbolisierung und grafische Wirkung bei weitem das Ergebnis des aktuellen Augenblicks übertrifft. Ist das erreicht, ist das Foto gut - Wirklichkeit ist zur Kunst geworden.

Andreas Feininger, Feiningers grosse Fotolehre, 1979, die letzte Seite

Hier sind wir nun also wieder am Ausgangspunkt angelangt: Bei Schultz, durch sein Barett als Künstler ausgewiesen, beim Suchen. Für uns Nachgeborene ist es sicher merkwürdig, dass sich jemand allein durch seine Wahl der Kopfbedeckung als ein Künstler ausweisen kann. Wir verwenden hierzu bekanntlich die rot, grün oder gelb emaillierte Abzeichen, die von der FIAP verliehen werden!

Wonach sucht er? Nach Sichten, wohl auch nach Einsichten. Zuallererst aber sucht er wohl nach Eindrücken in seiner Umwelt. Die er aufnimmt, und dann auswertet.

Und weshalb geht er langsam? Schultz geht langsam, weil er den Genius loci aufnehmen möchte. (Der Begriff des Genius loci geht zurück auf den römischen "ortsansässigen Naturgeist", dessen jeweilige Stimmung sich auf den rastenden Wanderer überträgt. Man denke etwa an den moosbewachsenen Brunnen, der von Fine-Art-Printers wegen seines Detailreichtums so gern im Grossformat abgelichtet wird: Wie unterschiedlich ist die Stimmung an einem heissen Sommertag (einladend, kühl, erfrischend), und im nebligem Herbst (abweisend, feucht, ungemütlich)! Mir dient der Begriff als bequeme Worthülse für die Fülle von nur schwer differenzierbaren Wahrnehmungen im Bereich der Wechselwirkungen zwischen unserer Persönlichkeit und dem uns umgebenden Raum: Das geistige Klima, das an diesem bestimmten Ort herrscht.)

Der bekannte Fotograf Ansel Adams hat uns geraten, wir sollen keine Fotos nehmen ("take"), sondern Fotos machen ("make"). Sie kennen Ansel Adams nicht? Macht nichts. Seine Bekanntheit beruht darauf, dass er die auf einem Film bzw. dem Photo-Papier verfügbaren, je einer Blende entsprechenden Grauwert-Bereiche mit römischen Ziffern benannt und das dann Zonensystem genannt hat. In der freien Übersetzung: Kein Foto schiessen - und überhaupt nichts und niemanden abschiessen. Sondern: Bilder aufnehmen. Aufnehmen ist ein gutes Wort, und ich bin froh, dass wir in der deutschen Sprache darüber verfügen: Etwas Vorhandenes annehmen, und in sich aufnehmen - und dann erst auslösen. Und sehen sie: Das braucht Zeit. Fotografieren braucht Zeit. Wenn es denn Kunst sein muss: Der Künstler braucht Zeit.

Bild: Michael Albat

Nun, meinethalben braucht es Kunst nicht zu sein. Aber Zeit will ich haben, und ich rate Ihnen, sich ebenfalls Zeit zu nehmen. (Zeit hat man nicht, Zeit nimmt man sich.)

Sehen sie, Fotografie ist ja immer der Vergangenheit zugewandt. Kaum haben wir unsere Aufnahme gemacht, ist die abgebildete Realität auch schon verschwunden. Sehen wir das fertige Bild, ist sie schon weit weg - unwiederbringlich fort.

Betrachten wir Schultzens Bilder, so erzählen sie uns etwas über die damalige Zeit. Was war den Menschen wichtig, was empfanden sie als typisch?

Schultz fotografierte den breit grinsenden Händler, die Hundepeitsche in der Hand, neben seinem abgerissenen Diener, der ein Paar blank geputzte Schuhe der Kamera entgegenstreckt; einen langbärtigen katholischen Pater inmitten einer Schar Ovambokinder, in weissen Kleidchen wie Ankleidepuppen zur Kommunion geschmückt;...

Natürlich erreichen uns diese Informationen nicht direkt, sondern nur gefiltert über die Erfahrungen, Interessen und die Persönlichkeit des Fotografen. Und weiter gefiltert durch die Zeitläufe, also etwa durch die russische Artillerie.

Bild: Michael Albat

Oft kann man lesen, dass die Leute in den sechziger Jahren schwarzweiss genauso viel Schrott produziert haben wie heute mit Digitalkameras. Dem mag so sein - wenn man es unter dem kunsthandwerklichem Aspekt betrachtet. Aber trotzdem - Oma, fotografiert 1957 im Urlaub auf Capri - so handwerklich schlecht das Bild auch immer sein mag: Die Situation war Oma und Opa, damals, so wichtig, dass sie auf den Auslöser gedrückt, und den Film entwickelt, und das Bild ins Album geklebt und das Ganze über Jahre aufgehoben haben. Das Bild sagt uns etwas. Fraglich ist nur, ob wir uns die Zeit nehmen, dem Bild auch zuzuhören. Und je älter das Bild ist, um so mehr hat es uns zu erzählen.

Kunstwerke möchte ich keine schaffen, nur Fotos, die den Tag überdauern. Fotos, die ich mir in vielen Jahren anschauen kann, und in denen ich den Fotografen wieder erkenne, der ich einst war. Und ich möchte mich guten Gewissens an die Situation erinnern können, in der ich den Auslöser gedrückt habe.

Wenn Interesse, Gefühl, Meinung und eine persönliche Art, die Dinge zu sehen, aus Ihren Fotos sprechen, kann niemand Ihre Ehrlichkeit als Fotograf anzweifeln, und Ihre Bilder werden wertvoll sein, mag auch noch nicht alle Welt Ihre Auffassung teilen.

Andreas Feiniger

Schultz können wir nun seine Ehrlichkeit als Fotograf nicht absprechen. Und ich? Nun... also... so direkt gefragt... ähem... Auf jeden Fall: Ich bemühe mich! Und überhaupt! Wie steht es denn mit Ihnen?

Ich kann mir auf jeden Fall zu Gute halten, dass ich noch nie eine Frau als Modell hergenommen, sie mit einer Modell-spezifischen Seriennummer versehen, ihren Kopf abgeschnitten, ihre Beine amputiert und das Ganze dann veröffentlicht habe!

Bemühen möchte ich mich nicht nur um Wahrhaftigkeit bei der Auswahl und der Behandlung meiner Sujets, sondern auch um das Kunsthandwerk: Die Beschäftigung mit meinen Werkzeugen und mit dem von mir verwendeten Material.